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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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blickend, ich gähnend. Wie ein
verschlafenes Wochenende in Südafrika, dachte ich; wie ein Familienausflug mit
dem Auto. Wir hätten irgendein Spiel mit Worten spielen können, um uns die Zeit
zu vertreiben, doch dazu wären diese drei wohl nicht zu haben gewesen. Spiele
mit Worten, aus einer Vergangenheit, auf die nur ich mit Wehmut zurückblicken
konnte, wie wir aus den mittleren Schichten, den sorgenfreien Schichten, unsere
Sonntage damit verbrachten, das Land von einem schönen Fleckchen Erde zum
anderen zu durchstreifen, um dann den Nachmittag bei Tee und Teegebäck und
Erdbeermarmelade und Sahne in einer Teestube mit schönem Ausblick zu beenden,
am liebsten westwärts übers Meer.
    Ein Wagen
kam heraus, wir fuhren hinein. »Ich bleib hier«, sagte Vercueil.
    »Wo kann
jemand mit Gehirnerschütterung hingebracht worden sein?« fragte ich an der
Aufnahme.
    Langen Gängen voller
Betriebsamkeit folgend, suchten wir die Station C-5. Mit vier verschleierten
Muselmaninnen, die Schälchen mit Speisen trugen, quetschten wir uns in einen
Aufzug. Bheki, befangen wegen seiner verbundenen Hände, hielt sie hinter seinen
Rücken. Durch die C-5 hindurch, durch die C-6, und von dem Jungen keine Spur.
Florence hielt eine Schwester an. »Versuchen Sie’s im neuen Flügel«, schlug die
vor. Ich war erschöpft und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mehr weiter
gehn«, sagte ich. »Geht ihr beiden nur zu; wir treffen uns dann beim Wagen.«
    Ich war wirklich müde,
meine Hüfte schmerzte, mein Herz pochte, im Mund hatte ich einen unangenehmen
Geschmack. Aber es kam noch etwas hinzu. Ich sah zu viele kranke, alte
Menschen; und zu plötzlich. Sie bedrückten mich, bedrückten mich und
schüchterten mich ein. Schwarze und Weiße, Männer und Frauen, sie schlurften in
den Gängen herum, gierig einander beobachtend, mich beäugend, wenn ich mich
näherte, untrüglich witternd, daß ich nach Tod roch. »Betrügerin!« schienen sie
zu flüstern, bereit, mich am Arm zu fassen und zurückzuziehen: »Denkst du, du
kannst hier kommen und gehn, wie’s dir paßt? Kennst du die Grundregel nicht?
Dies ist das Haus des Schattens und Leidens, durch das du gehen mußt auf dem
Weg zum Tod. Das ist die allen auferlegte Strafe: eine Zeit im Gefängnis vor
der Hinrichtung.« Alte Hunde auf Patrouille in den Gängen, aufpassend, daß
keiner der Verurteilten zurückfliehe an die Luft, ans Licht, an die freigebige
Oberwelt. Hades dieser Ort, und ich ein flüchtiges Gespenst. Mich schauderte,
als ich ins Freie trat.
    Schweigend
warteten wir im Wagen, Vercueil und ich, wie ein allzu lange verheiratetes
Paar, leergeredet, verdrießlich. Sogar an den Geruch gewöhne ich mich, dachte
ich. Ist es das, was ich für Südafrika empfinde: keine Liebe, aber Gewöhnung an
seinen schlechten Geruch? Heirat ist Schicksal. Was wir heiraten, werden wir.
Wir, die wir Südafrika heiraten, werden Südafrikaner: häßlich, mürrisch,
stumpf, das einzige Lebenszeichen ein kurzes Aufblitzen der Fangzähne, wenn man
uns reizt. Südafrika: ein übellauniger alter Hund, der auf der Türschwelle döst
und sich Zeit läßt mit dem Sterben. Und was für ein einfallsloser Name für ein
Land! Hoffentlich ändern sie ihn, wenn sie einen Neuanfang machen.
    Eine Gruppe von
Krankenschwestern ging vorbei, lachend und fröhlich nach beendeter Schicht.
Ihre Dienste sind es, denen ich mich entzogen habe. Welche Erleichterung wäre
es, mich ihnen jetzt hinzugeben! Saubere Laken, frische Hände auf meinem
Körper, eine Entlassung aus Schmerz, eine Entlassung in Hilflosigkeit – was ist
es, was mich abhält vom Nachgeben? Ich fühlte eine Beklemmung in der Kehle,
Tränen stiegen auf, und ich wandte den Kopf ab. Ein kurzer Regenschauer, sagte
ich mir – englisches Wetter. Die Wahrheit ist aber, ich weine jedesmal
leichter, jedesmal mit weniger Scham. Ich habe einmal eine Frau gekannt (es
macht Dir doch nichts aus, daß Deine Mutter von diesen Dingen spricht?), der
Lust, Orgasmus sehr leicht kamen. Orgasmen durchliefen sie, sagte sie, wie
kleine Schauder, einer nach dem anderen, riffelten ihren Körper wie Wellchen
das Wasser. Wie würde es sein, fragte ich mich, in so einem Körper zu leben? Zu
Wasser zu werden: ist es das, was Seligkeit ist? Jetzt finde ich eine Antwort
in diesen plötzlichen Tränenergüssen, diesem meinem Aufgelöstsein. Nicht Tränen
des Jammers, sondern der Traurigkeit. Einer leichten, wechselhaften
Traurigkeit: des Blues, doch nicht des dunklen Blues: eher des fahlen

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