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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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vergehen. Sie gehen vorbei:
hier wird es hell, dort wird es dunkel. Sie geht zu Bett; schläfrig liegt sie
neben dem Körper ihres Mannes in ihrem Ehebett in ihrem friedlichen Land. Ich
denke an ihren Körper, still, fest, lebendig, in Frieden, entkommen. Ich sehne
mich, sie zu umarmen. ›Ich bin so dankbar‹, möchte ich sagen, aus ganzem
Herzen. Ich möchte auch sagen, tue es aber nie: ›Rette mich!‹ Verstehn Sie?
Verstehn?«
    Die
Wagentür war offen. Vercueil saß weggebeugt von mir, mit dem Kopf am Türrahmen,
einem Fuß draußen auf dem Boden. Er seufzte schwer; ich hörte es. Zweifellos
wünschte er sich, daß Florence ihm zu Hilfe käme. Wie langweilig diese
Bekenntnisse, diese Rechtfertigungen, dieser Forderungen!
    »Denn das ist etwas, um das
man ein Kind niemals bitten sollte«, fuhr ich fort, »einen in die Arme zu
nehmen, einen zu trösten, einen zu retten. Der Trost, die Liebe sollte vorwärts
fließen, nicht rückwärts. Das ist eine Grundregel, noch eine von den eisernen
Grundregeln. Wenn ein alter Mensch anfängt, um Liebe zu flehen, wird alles
schmierig. Wie wenn ein Elternteil versucht, zu einem Kind ins Bett zu
kriechen: unnatürlich.
    Doch wie schwer ist es,
sich von dieser lebendigen Berührung loszureißen, von all den Berührungen, die
uns mit den Lebenden vereinen! Wie ein Dampfer, der ablegt von der Kaimauer,
die Bänder straffen sich, reißen, fallen weg. Aufbruch zu einer letzten Reise.
Die Lieben – davongesegelt. Alles ist so traurig, so traurig! Als vorhin diese
Krankenschwestern vorbeigingen, war ich nahe daran, aus dem Wagen zu steigen
und aufzugeben, mich wieder dem Krankenhaus anheimzugeben, mich ausziehen und
ins Bett bringen und von ihren Händen pflegen zu lassen. Vor allem ihre Hände
sind es, nach denen ich mich sehne. Von ihren Händen berührt zu werden.
Weswegen sonst stellen wir sie ein, diese Mädchen, diese Kinder, wenn nicht
deswegen, weil sie Fleisch berühren und streicheln, mit ihren frischen, flinken
Händen, das alt geworden ist und nicht mehr liebenswert? Warum geben wir ihnen Lampen
und nennen sie Engel? Weil sie mitten in der Nacht kommen und uns sagen, daß es
Zeit ist zu gehen? Vielleicht. Aber auch, weil sie eine Hand ausstrecken, um
eine Berührung zu erneuern, die abgebrochen war.«
    »Sagen Sie das Ihrer
Tochter«, sagte Vercueil ruhig. »Sie wird kommen.«
    »Nein.«
    »Sagen Sie’s ihr sofort.
Rufen Sie sie an in Amerika. Sagen Sie ihr, Sie brauchen sie hier.«
    »Nein.«
    »Dann sagen Sie’s ihr aber
auch nicht danach, wenn’s zu spät ist. Sie wird es Ihnen nie verzeihen.«
    Der Vorwurf war wie ein
Schlag ins Gesicht.
    »Es gibt
Dinge, die Sie nicht verstehn«, sagte ich. »Ich habe nicht die Absicht, meine
Tocher zurückzurufen. Ich mag Verlangen haben nach ihr, aber ich will sie nicht
hier haben. Deswegen heißt es ja Verlangen. Es muß einen langen Weg gehen. Bis
zu den Enden der Erde.«
    Es spricht für ihn, daß er
sich durch diesen Unsinn nicht beirren ließ. »Sie müssen sich entscheiden«,
sagte er. »Sagen Sie’s ihr oder sagen Sie’s ihr nicht.«
    »Ich werd’s
ihr nicht sagen, da können Sie sicher sein«, sagte ich (was für eine Lügnerin
ich bin!). Etwas stieg auf in meiner Stimme, ein Ton, den ich nicht unter
Kontrolle hatte. »Ich möchte Sie daran erinnern, daß dies kein normales Land
ist. Die Menschen können nicht einfach kommen und gehn, wie sie wollen.«
    Er tat
nichts, um mir zu helfen.
    »Meine Tochter wird nicht
zurückkommen, bevor die Dinge sich hier nicht geändert haben. Sie hat einen
Schwur abgelegt. Sie wird nicht nach Südafrika zurückkommen, so wie Sie und sie
und ich es kennen. Sie wird diese – wie soll ich sagen – diese Leute bestimmt
nicht um eine Einreiseerlaubnis ersuchen. Sie wird zurückkommen, wenn sie mit
den Füßen von Laternenpfählen hängen, sagt sie. Dann wird sie kommen, um ihre
Leichen mit Steinen zu bewerfen und in den Straßen zu tanzen.«
    Breit grinsend zeigte
Vercueil seine Zähne. Gelbe Pferdezähne. Ein altes Pferd.
    »Sie
glauben mir nicht«, sagte ich, »aber vielleicht lernen Sie sie eines Tages noch
kennen, und dann werden Sie sehn. Sie ist wie Eisen. Ich werde sie nicht darum
bitten, ihren Schwur zu brechen.«
    »Sie sind auch wie Eisen«,
sagte er – zu mir!
    Ein
Schweigen senkte sich zwischen uns. Etwas in mir brach.
    »Etwas ist gebrochen in
mir, als Sie das eben sagten«, sagte ich, die Worte kamen einfach so. Ich wußte
nicht, was ich noch sagen sollte. »Wenn ich aus

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