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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Blues des
fernen Himmels, klarer Wintertage. Eine Privatsache, eine Störung auf dem
Wasserspiegel der Seele, die ich immer weniger zu verbergen suche.
    Ich
trocknete mir die Augen, schneuzte mir die Nase. »Sie brauchen nicht verlegen
zu sein«, sagte ich zu Vercueil. »Ich weine ohne Grund. Danke, daß Sie
mitgekommen sind.«
    »Ich sehe
nicht, wozu Sie mich brauchen«, sagte er.
    »Es ist schwer, die ganze
Zeit allein zu sein. Das ist alles. Ich habe Sie mir nicht ausgesucht, aber Sie
sind nun mal derjenige, der da ist, und das wird genügen müssen. Sie sind
gekommen. Es ist wie ein Kind haben. Man kann sich das Kind nicht aussuchen. Es
kommt einfach.«
    Langsam und verschmitzt
lächelnd, blickte er weg.
    »Außerdem«,
sagte ich, »schieben Sie den Wagen an. Wenn ich den Wagen nicht benutzen
könnte, säße ich zu Hause in der Falle.«
    »Alles, was
Sie brauchen, ist eine neue Batterie.«
    »Ich will keine neue
Batterie. Das verstehn Sie nicht, oder? Muß ich erklären? Dieser Wagen ist alt,
er gehört zu einer Welt, die kaum noch existiert, aber er funktioniert. Was von
dieser Welt übrig ist, was noch funktioniert, daran versuche ich festzuhalten.
Ob ich es liebe oder hasse, tut nichts zur Sache. Tatsache ist, daß ich ebenso
zu ihr gehöre, wie ich, gottlob, nicht zu dem gehöre, was aus mir geworden ist.
Es ist eine Welt, in der man sich nicht darauf verlassen kann, daß Wagen immer
anspringen, wenn man es will. In meiner Welt versucht man’s mit dem
automatischen Anlasser. Wenn der nicht funktioniert, versucht man’s mit der
Handkurbel. Wenn die nicht funktioniert, holt man sich wen zum Anschieben. Und
wenn der Wagen immer noch nicht anspringt, steigt man aufs Fahrrad oder geht zu
Fuß oder bleibt zu Hause. So sind die Dinge in der Welt, in die ich gehöre. Ich
fühle mich wohl da, es ist eine Welt, die ich verstehe. Ich sehe nicht, warum
ich das ändern sollte.«
    Vercueil
sagte nichts.
    »Und wenn
Sie denken, ich sei ein Fossil aus der Vergangenheit«, fügte ich hinzu, »dann
wird es Zeit, daß Sie sich mal selbst anschauen. Sie haben gesehn, was die
Kinder von heute vom Trinken und Herumliegen und von leeglopery * halten.
Seien Sie gewarnt. Im Südafrika der Zukunft wird jeder arbeiten müssen, Sie
auch. Diese Aussicht mag Ihnen nicht gefallen, aber machen Sie sich darauf
gefaßt.«
    Dunkelheit senkte sich über
den Parkplatz. Wo blieb Florence? Der Schmerz in meinem Rücken war zermürbend.
Die Zeit für meine Pillen war längst überschritten.
    Ich dachte an das leere
Haus, die lange Nacht gähnend vor mir. Wieder kamen Tränen, leichte Tränen.
    Ich sprach:
»Ich habe Ihnen von meiner Tochter in Amerika erzählt. Meine Tochter ist alles
für mich. Ich habe ihr nicht die Wahrheit gesagt, die ganze Wahrheit über
meinen Zustand. Sie weiß, daß ich krank war, sie weiß, daß ich eine Operation
hatte; sie denkt, sie war erfolgreich und daß es mir bessergeht. Wenn ich
nachts im Bett liege und in das schwarze Loch starre, in das ich falle, ist es
nur der Gedanke an sie, der mich davon abhält, den Verstand zu verlieren. Ich
sage mir: Ich habe ein Kind zur Welt gebracht, ich habe sie zu ihrer Fraulichkeit
geleitet, ich habe sie sicher zu einem neuen Leben geleitet: das habe ich
getan, das kann mir nicht genommen werden. Dieser Gedanke ist der Pfeiler, an
den ich mich klammere, wenn die Stürme mich treffen.
    Es gibt ein kleines Ritual,
das ich manchmal vollziehe, das mir hilft, ruhig zu bleiben. Ich sage mir: Es
ist zwei Uhr morgens hier auf dieser Seite der Welt, also ist es sechs Uhr
abends dort, auf ihrer Seite. Stell es dir vor: sechs Uhr abends. Nun stell dir
das übrige vor. Stell dir alles vor. Sie ist gerade von der Arbeit nach Hause
gekommen. Sie hängt ihren Mantel auf. Sie öffnet den Kühlschrank und holt ein
Päckchen tiefgefrorene Erbsen heraus. Sie gibt die Erbsen in eine Schüssel. Sie
nimmt zwei Zwiebeln und beginnt sie zu schälen. Stell dir die Erbsen vor, stell
dir die Zwiebeln vor. Stell dir die Welt vor, in der sie diese Dinge tut. Eine
Welt mit ihren eigenen Gerüchen und Geräuschen. Stell dir einen Sommerabend in
Nordamerika vor, mit Mücken an der Fliegendrahttür, Kindern, die unten von der Straße
rufen. Stell dir die Tochter vor in ihrem Haus, in ihrem Leben, mit einer
Zwiebel in der Hand, in einem Land, wo sie in Frieden leben und sterben wird.
Die Stunden vergehen, in jenem Land und in diesem und auf der ganzen übrigen
Welt, im selben Schritt. Stell dir vor, wie sie

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