Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
Vom Netzwerk:
sägezahnig, rotäugig die wilden, erzkonservativen alten »Tod!«
    »Tod!«
grunzenden Keiler. Obwohl es mir nicht guttut, weiche ich vor der weißen
Berührung ebensosehr zurück wie er; würde vor der Berührung der alten weißen
Frau, die seine Hand tätschelt, sogar zurückweichen, wenn sie nicht ich wäre.
    Ich
versuchte es wieder.
    »Bevor ich
in Ruhestand ging«, sagte ich, »war ich Lehrerin. Ich lehrte an der
Universität.«
    Vercueil,
auf der anderen Seite des Bettes, faßt mich scharf ins Auge. Aber ich sprach
nicht zu ihm.
    »Wenn du in
meiner Thukydides-Klasse gewesen wärst«, fuhr ich fort, »hättest du etwas
darüber lernen können, was aus unserer Menschlichkeit in Zeiten des Krieges
werden kann; unserer Menschlichkeit, mit der wir geboren sind, in die wir
hineingeboren sind.«
    Die Augen des Jungen hatten
etwas Rauchiges: das Weiß ohne Lüster, die Pupillen flach, dunkel, wie
Druckerschwärze. Vielleicht war er sediert worden, aber er wußte, daß ich da
war, wußte, wer ich war, wußte, daß ich zu ihm sprach. Er wußte es und hörte
nicht zu, hatte niemals einem seiner Lehrer zugehört, sondern hatte wie ein
Stein im Klassenzimmer gesessen, unzugänglich für Worte, das Klingeln abwartend,
seine Zeit.
    »Thukydides
schrieb von Menschen, die Regeln aufstellten und sie befolgten. Indem sie sich
an die Regeln hielten, töteten sie ganze Klassen von Feinden, ohne Ausnahme.
Die meisten von denen, die starben, hatten, da bin ich sicher, das Gefühl, daß
ein schrecklicher Irrtum geschah, daß, welche Regel es auch war, nicht sie
damit gemeint sein konnten. ›Ich!‹: das war ihr letztes Wort, als ihnen die
Kehle durchgeschnitten wurde. Ein Wort des Protestes: Ich, die Ausnahme.
    Waren sie Ausnahmen? Die
Wahrheit ist, daß wir, hätten wir Zeit zu sprechen, alle behaupten würden,
Ausnahmen zu sein. Für jeden von uns ist ein Fall vorzutragen. Wir alle
verdienen die Wohltat des Zweifels.
    Aber es gibt Zeiten, in
denen keine Zeit ist für all diese genauen Anhörungen, all diese Ausnahmen, all
diese Gnade. Es ist keine Zeit da, also fallen wir zurück auf die Regel. Und
darauf, daß es ein großer Jammer ist, der größte. Das hättest du von Thukydides
lernen können. Es ist ein großer Jammer, wenn wir in solche Zeiten hineingeraten.
Wir sollten mit sinkenden Herzen in sie hineingeraten. Zu begrüßen sind sie
durchaus nicht.«
    Sehr wohl
überlegt schob er seine heile Hand unter die Decke, damit ich sie nicht
nochmals berührte.
    »Gute
Nacht«, sagte ich. »Hoffentlich schläfst du gut und fühlst dich morgen besser.«
    Der alte
Mann hatte aufgehört zu singen. Seine Hände flappten lose auf seinen Schenkeln
wie sterbende Fische. Seine Augen waren nach hinten verdreht, von seinem Kinn
rann Speichel.
    Der Wagen
wollte nicht anspringen, und Vercueil mußte anschieben.
    »Dieser Junge ist anders
als Bheki, ganz anders«, sagte ich, zuviel redend jetzt, etwas unbeherrscht.
»Ich versuche, es mir nicht anmerken zu lassen, aber er macht mich nervös.
Schade, daß Bheki unter seinen Einfluß geraten ist. Aber vermutlich gibt es
Hunderttausende wie ihn. Mehr als solche wie Bheki. Die kommende Generation.«
    Wir kamen nach Hause.
Ungebeten folgte er mir nach drinnen.
    »Ich muß
schlafen, ich bin erschöpft«, sagte ich. Und dann, als er sich nicht anschickte
zu gehen: »Wollen Sie etwas essen?«
    Ich stellte
ihm etwas hin, nahm meine Pillen, wartete.
    Den Laib Brot mit seiner
schlimmen Hand festhaltend, schnitt er sich eine Scheibe ab, bestrich sie dick
mit Butter, schnitt Käse ab. Schmutzige Fingernägel. Wer weiß, was er sonst
noch alles angefaßt hat. Und dies ist nun der, dem ich mein Herz öffne, dem ich
letzte Dinge anvertraue. Warum dieser krumme Weg zu Dir?
    Mein Geist wie eine Pfütze,
in die er seinen Finger taucht und rührt. Ohne diesen Finger Stille,
Stagnation.
    Eine Art Umweg. Durch Umweg
finde ich den richtigen Weg. Ein Krebsgang.
    Sein
schmutziger Fingernagel senkt sich in mich.
    »Sie sehen
grau aus«, sagte er.
    »Ich bin müde.«
    Er kaute,
lange Zähne zeigend.
    Er beobachtet, urteilt aber
nicht. Immer von leichtem Alkoholdunst umgeben. Alkohol, der weich macht, der
konserviert. Mollificans. Der uns hilft zu vergeben. Er trinkt und macht
Zugeständnisse. Sein Leben nichts als Zugeständnisse. Er, Mr. V. zu dem ich
spreche. Spreche und dann schreibe. Spreche, um zu schreiben. Während ich zu
der kommenden Generation, die nicht trinkt, nicht sprechen kann, ihr nur
Vorträge halten

Weitere Kostenlose Bücher