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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Frauen, die eine erkannte ich als Florences Schwester,
kamen mit Koffern den Weg hoch.
    »Guten Tag«, sagte die
Schwester. Sie hielt einen Schlüssel hoch. »Wir wollen die Sachen von meiner
Schwester holen. Florence.«
    »Ja«, sagte
ich.
    Sie öffneten Florences Tür
und gingen in das Zimmer. Nach einer Weile folgte ich ihnen. »Ist Florence
wohlauf?« fragte ich. Die Schwester, die gerade eine Schublade ausgeräumt
hatte, stand heftig atmend auf. Sie fand offenbar Geschmack an dieser dummen
Frage.
    »Nein, daß
sie wohlauf ist, kann ich nicht gerade sagen«, sagte sie. »Nicht wohlauf. Wie
kann sie wohlauf sein?«
    Die andere
Frau tat so, als hörte sie nichts, und faltete weiter Babysachen zusammen. Es
war viel mehr in dem Zimmer, als sie in zwei Koffern hätten forttragen können.
    »Ich hab’s nicht so
gemeint«, sagte ich; »aber lassen Sie’s gut sein. Was ich Sie fragen wollte:
Würden Sie Florence wohl etwas von mir bringen?«
    »Ja, kann
ich machen, wenn’s nicht groß ist.«
    Ich schrieb
einen Scheck aus.
    »Sagen Sie Florence, daß es
mir leid tut. Sagen Sie ihr, daß ich gar nicht sagen kann, wie leid es mir tut.
Ich denke die ganze Zeit an Bheki.«
    »Es tut Ihnen leid.«
    »Ja.«
     
     
    Wieder ein Tag mit klarem
Himmel. Vercueil in einem seltsam erregten Zustand. »Heute ist also der Tag?«
fragte er. »Ja«, erwiderte ich, gegen seinen unpassenden Eifer mich steif
machend; fast hätte ich hinzugefügt: »Aber was geht Sie das an?«
    Ja, habe ich gesagt: heute
ist der Tag. Doch der Tag ist vergangen, und ich habe nicht ausgeführt, was
auszuführen ich versprach. Denn solange die Spur der Worte weitergeht, weißt Du
mit Sicherheit, daß ich es nicht ausgeführt habe: ein Gesetz, ein weiteres
Gesetz. Der Tod kann in der Tat der letzte große Feind des Schreibens sein,
aber Schreiben ist auch der Feind des Todes. Indem ich also schreibe, den Tod
auf Armeslänge mir vom Leibe halte, laß mich Dir sagen, daß ich vorhatte, es
auszuführen, anfing, es auszuführen, es nicht ausführte. Laß mich Dir noch mehr
sagen. Laß mich Dir sagen, daß ich badete. Laß mich Dir sagen, daß ich mich
anzog. Laß mich Dir sagen, daß, als ich meinen Körper herrichtete, ein
schwaches Glühen des Stolzes in ihn zurückzukehren begann. Zwischen dem Warten
im Bett darauf, daß das Atmen aufhört, und dem Aufbrechen, um sich selbst ein
Ende zu machen – was für ein Unterschied!
    Ich hatte
vor, es auszuführen: Ist das die Wahrheit? Ja. Nein. Jein. Es gibt so ein Wort,
wenn es auch erst spät in die Wörterbücher aufgenommen wurde. Jein: Jede Frau
weiß, was es bedeutet, da sie damit jeden Mann hinhalten kann. »Werden Sie es
tun?« hat Vercueil gefragt, und seine Mann-Augen glänzten dabei. »Jein«, hätte
ich antworten sollen.
    Ich trug Weiß und Blau: ein
hellblaues Kostüm, eine weiße Bluse mit einer Schleife am Hals. Ich machte mein
Gesicht sorgfältig zurecht, und mein Haar. Die ganze Zeit, als ich vor dem
Spiegel saß, zitterte ich leicht. Ich fühlte überhaupt keinen Schmerz. Der
Krebs hatte aufgehört zu nagen.
    Funkelnd
vor Neugier folgte Vercueil mir in die Küche und schlich herum, während ich
frühstückte. Schließlich, gereizt, aufgebracht, fuhr ich ihn an: »Würden Sie
mich bitte allein lassen!« Worauf er mich mit einem Ausdruck derart kindischen
Verletztseins ansah, daß ich ihn am Ärmel zupfte. »Ich hab’s nicht so gemeint«,
sagte ich. »Aber setzen Sie sich bitte hin: Sie machen mich nervös, wo ich doch
Ruhe brauche. Ich bin so hin und her gerissen! Einmal denke ich: Los, mach
Schluß mit diesem unwürdigen Leben. Und im nächsten Moment denke ich: Warum
soll ich die Schuld tragen? Warum wird von mir erwartet, daß ich mich über
meine Zeit erhebe? Ist es mein Werk, daß meine Zeit so schändlich gewesen ist?
Warum soll es mir überlassen sein, alt und krank und leidend wie ich bin, ohne
Hilfe aus diesem Abgrund der Schande zu steigen?
    Ich möchte
wüten gegen die Männer, die diese Zeit geschaffen haben. Ich möchte sie
anklagen, mein Leben verdorben zu haben, so wie eine Ratte oder eine
Küchenschabe Nahrung verdirbt, ohne auch nur davon zu fressen, einfach dadurch,
daß sie darübergeht und daran schnuppert und ihre körperlichen Funktionen
darauf verrichtet. Es ist kindisch, ich weiß, mit den Fingern zu zeigen und
andere zu beschuldigen. Aber warum soll ich akzeptieren, daß mein Leben auch
unter jeder anderen Macht in diesem Land unwürdig gewesen wäre. Macht ist eben
Macht. Sie

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