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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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auffrißt. Würde man
mich öffnen, so fände man mich hohl wie eine Puppe, eine Puppe, in der ein
Krebs hockt, die Lippen sich leckend, geblendet von der Flut des Lichts.
    War es der
aus dem schwarzen Kasten herausäugende Krebs, den ich ahnungsvoll sah, als ich
zwei war? Versuchte ich, uns alle vor dem Krebs zu retten? Aber sie hielten
mich zurück, drückten auf den Auslöser, und der Krebs sprang heraus und drang
ein in mich.
    Nun, da
kein Fleisch mehr übrig ist, nagt er an meinen Knochen. Nagt an der Schaufel
meines Beckens, nagt an meinem Rückgrat, beginnt an meinen Knien zu nagen. Die
Katzen, um die Wahrheit zu sagen, haben mich nie wirklich geliebt. Nur dieses
Geschöpf ist treu bis ans Ende. Mein Haustier, mein Schmerz.
    Ich ging
nach oben und öffnete die Toilettentür. Vercueil war noch da, versunken in
seinem tiefen Schlaf. Ich schüttelte ihn. »Mr. Vercueil!« sagte ich. »Kommen
Sie, legen Sie sich hin.«
    Aber das tat er nicht. Erst
hörte ich ihn auf der Treppe, auf jeder Stufe mit beiden Beinen verweilend wie
ein alter Mann. Dann hörte ich, wie die Hintertür sich schloß.
     
     
    Ein schöner Tag, einer von
diesen stillen Wintertagen, an denen das Licht gleichmäßig aus allen
Himmelsrichtungen zu strömen scheint. Vercueil fuhr mich die Breda Street
hinunter und in die Orange Street. Gegenüber der Einfahrt zur Government Avenue
sagte ich ihm, er solle parken.
    »Ich hab mir gedacht, ich
fahr den Wagen die ganze Avenue runter«, sagte ich. »Wenn ich erst mal an der
Kette vorbei bin, weiß ich nicht, wie jemand mich aufhalten könnte. Aber meinen
Sie, daß da genug Platz ist, um vorbeizukommen?«
    (Du
erinnerst Dich vielleicht, daß am Kopf der Avenue zwei gußeiserne Poller
stehen, zwischen denen eine Kette hängt.)
    »Ja, an der
Seite können Sie vorbeikommen«, sagte er.
    »Danach
käme es dann nur noch darauf an, den Wagen gerade zu halten.«
    »Werden Sie
das wirklich tun?« fragte er. Seine Huhnaugen funkelten grausam.
    »Wenn ich
den Mut aufbringe.«
    »Aber warum? Wozu?«
    Schwierig, in den Zähnen
dieses Blickes großartige Antworten zu geben. Ich schloß die Augen und
versuchte, an meiner Vision des Wagens festzuhalten, wie er sich schnell genug
bewegt, um hinten die Flammen herausschlagen zu lassen, wie er die gepflasterte
Avenue hinunterrollt, vorbei an Touristen und Tramps und Liebespaaren, vorbei
am Museum, der Kunstgalerie, den botanischen Gärten, bis er seine Fahrt
verlangsamen würde und vor dem Haus der Schande zum Stehen käme, brennend und
schmelzend.
    »Wir können jetzt
zurückfahren«, sagte ich. »Ich wollte mich nur vergewissern, daß es machbar
ist.«
    Er kam mit nach drinnen,
und ich gab ihm Tee. Der Hund saß ihm zu Füßen und spitzte abwechselnd die
Ohren zu uns hinauf, als wir sprachen. Ein feiner Hund: eine leuchtende
Präsenz, sterngeboren, wie manche Menschen es sind.
    »Um Ihre
Frage zu beantworten, wozu?« sagte ich: »Das hat mit meinem Leben zu
tun; mit einem Leben, das nicht mehr viel wert ist. Ich versuche
herauszukriegen, was ich dafür bekommen kann.«
    Seine Hand strich ruhig
über das Fell des Hundes, hin und her. Der Hund blinzelte, schloß die Augen.
Liebe, dachte ich: so unwahrscheinlich es auch ist, ich werde hier Zeuge von
Liebe.
    Ich
versuchte es noch einmal. »Es gibt einen berühmten Roman, in dem eine Frau des
Ehebruchs überführt wird – Ehebruch war früher ein Verbrechen – und dazu
verurteilt wird, in der Öffentlichkeit mit dem auf ihre Kleidung gestickten
Buchstaben E herumzugehen. Sie trägt das E so viele Jahre, daß die Leute
vergessen, wofür es steht. Sie vergessen, daß es für etwas steht. Es wird
einfach etwas, was sie trägt, wie einen Ring oder eine Brosche. Es kann sogar
sein, daß sie es war, die die Mode einführte, Schrift auf der Kleidung zu
tragen. Aber das steht nicht in dem Buch.
    Diese
öffentlichen Zurschaustellungen, diese Demonstrationen – darum dreht es sich in
der Geschichte –, wie kann man jemals sicher sein, wofür sie stehen? Da setzt
sich beispielsweise eine Frau in Brand. Warum? Weil sie in den Wahnsinn
getrieben wurde? Weil sie verzweifelt ist? Weil sie Krebs hat? Ich dachte
daran, zur Erklärung einen Buchstaben auf den Wagen zu malen. Aber welchen? A?
B? C? Welcher Buchstabe ist der richtige für meinen Fall? Und warum überhaupt
eine Erklärung? Wen außer mir geht das was an?«
    Ich hätte
mehr sagen können, aber in dem Moment klickte der Torriegel, und der Hund fing
an zu knurren. Zwei

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