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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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verloren. Verstehn Sie?«
    Vercueil
hing über dem Lenkrad wie jemand, der schlecht sieht. Er, der Habichtäugige.
Spielte es eine Rolle, ob er verstand?
    »Es ist wie
den Alkohol aufgeben wollen«, beharrte ich. »Man versucht und versucht es immer
wieder, aber im Innersten weiß man von Anfang an, daß man rückfällig werden
wird. Es liegt eine Scham in diesem privaten Wissen, eine Scham so warm, so
vertraut, so tröstlich, daß mit ihr noch mehr Scham hereinflutet. Es scheint
keine Grenze zu geben für das Ausmaß an Scham, das ein menschliches Wesen
empfinden kann.
    Aber wie schwer ist es,
sich zu töten! Man klammert sich so fest an das Leben! Mir scheint, daß im
letzten Moment etwas anderes als der Wille ins Spiel kommen muß, etwas Fremdes,
etwas Gedankenloses, um einen über den Rand zu fegen. Man muß ein anderer
werden, als man selber ist. Aber wer ist dieser andere? Wer ist es, der darauf
wartet, daß ich in seinen Schatten trete? Wo finde ich ihn?«
    Auf meiner
Uhr war es 10:20. »Wir müssen zurück«, sagte ich.
    Vercueil
verlangsamte das Tempo. »Wenn es das ist, was Sie wollen, bring ich Sie
zurück«, sagte er. »Oder wir können weiterfahren, wenn Sie möchten. Wir können
um die ganze Halbinsel fahren. Es ist ein schöner Tag.«
    Ich hätte
antworten sollen: Nein, bringen Sie mich sofort zurück. Aber ich zögerte, und
in diesem Moment des Zögerns erstarben die Worte in mir.
    »Halten Sie
hier«, sagte ich.
    Vercueil fuhr von der
Straße und parkte.
    »Ich muß
Sie um einen Gefallen bitten«, sagte ich. »Bitte machen Sie sich nicht lustig
über mich.«
    »Ist das
der Gefallen?«
    »Ja. Jetzt und in Zukunft.«
    Er zuckte
mit den Achseln.
    Auf der anderen Seite der
Straße saß ein Mann in abgerissener Kleidung neben einer Pyramide Brennholz zum
Verkauf. Er betrachtete uns prüfend, sah weg.
    Zeit verging.
    »Ich habe Ihnen einmal eine
Geschichte über meine Mutter erzählt«, sagte ich und bemühte mich, leiser zu
sprechen. »Wie sie als kleines Mädchen im Dunkeln lag und nicht wußte, was über
ihr hinwegrollte, die Räder des Planwagens oder die Sterne.
    Ich habe
mein ganzes Leben an dieser Geschichte festgehalten. Wenn jeder von uns eine
Geschichte hat, mit der wir uns erzählen, wer wir sind und woher wir kommen,
dann ist das meine Geschichte. Das ist die Geschichte, die ich wählte oder die
mich gewählt hat. Von dort komm ich her, und dort beginne ich.
    Sie fragen, ob ich
weiterfahren will. Wenn das praktisch möglich wäre, würde ich vorschlagen, daß
wir zum östlichen Kap fahren, zu den Outeniqua Bergen, zu jenem Rastplatz oben
am Prince Alfred’s Paß. Ich würde sogar sagen, wir brauchen keine Karten, wir
fahren nordwärts und ostwärts nach der Sonne, ich werde die Stelle
wiedererkennen, wenn wir zu ihr kommen: den Rastplatz, den Aufbruchsplatz, den
Ort des Nabels, den Ort, wo ich mit der Welt in Verbindung trete. Dort setzen
Sie mich ab, oben auf dem Paß, und fahren weg, und ich bleibe da und warte auf
die Nacht und die Sterne und auf den geisterhaften Wagen, der über mir
hinwegrollen soll.
    Aber die
Wahrheit ist, daß ich die Stelle, mit oder ohne Karten, nicht mehr finden kann.
Warum? Weil ein bestimmter Wunsch von mir gegangen ist. Vor einem Jahr oder
einem Monat wäre es noch anders gewesen. Ein Wunsch, vielleicht der tiefste
Wunsch, zu dem ich fähig bin, wäre von mir zu diesem einen Flecken auf der Erde
geströmt und hätte mich geleitet. Dies ist meine Mutter, hätte ich
gesagt und mich dort hingekniet: dies ist es, was mir Leben schenkt. Heiliger
Boden, nicht wie ein Grab, sondern wie ein Ort der Wiederauferstehung heilig
ist: ewiger Wiederauferstehung aus der Erde.
    Jetzt ist
dieser Wunsch, den ich auch Liebe nennen könnte, von mir gegangen. Ich liebe
dieses Land nicht mehr. So einfach ist das. Ich bin wie ein Mann, der kastriert
worden ist. Kastriert in seiner Reife. Ich versuche mir vorzustellen, wie das
Leben für einen Mann ist, dem das angetan wurde. Ich stelle mir vor, wie er
Dinge sieht, die er früher geliebt hat, von denen er aus der Erinnerung weiß,
daß er sie noch lieben sollte, aber er ist nicht mehr fähig, überhaupt noch
Liebe aufzubringen. Liebe: was war das? sagt er zu sich und tastet in der
Erinnerung nach dem alten Gefühl. Aber über allem liegt jetzt Fadheit, eine
Stille, eine Flaute. Etwas, das ich einmal hatte, ist verraten worden, denkt er
und konzentriert sich, um diesen Verrat in all seiner Schärfe zu fühlen. Aber
da ist keine Schärfe.

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