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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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dringt ein. Das ist ihre Natur. Sie dringt ein in dein Leben.
    Sie wollen
wissen, was vorgeht in mir, und ich versuche, es Ihnen zu sagen. Ich will mich
verkaufen, mich freikaufen, bin aber so durcheinander, daß ich nicht weiß, wie
ich das anstellen soll. Das ist, wenn Sie so wollen, die Verrücktheit, die in
mich eingedrungen ist. Das braucht Sie nicht zu wundern. Sie kennen dieses
Land. Hier liegt Wahnsinn in der Luft.«
    Während
dieser ganzen Rede hatte Vercueil denselben angespannten, zurückhaltenden,
schmaläugigen Gesichtsausdruck gehabt. Jetzt sagte er etwas Seltsames: »Möchten
Sie, daß wir eine Ausfahrt machen?«
    »Wir können keine Ausfahrt
machen, Mr. Vercueil. Aus tausend Gründen nicht.«
    »Wir können
uns ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen und so gegen zwölf wieder zurück
sein.«
    »In einem
Wagen mit einem Loch in der Windschutzscheibe können wir uns keine
Sehenswürdigkeiten anschauen. Das ist lächerlich.«
    »Ich nehme die
Windschutzscheibe raus. Es ist bloß Glas, Sie brauchen es nicht.«
    Warum gab
ich nach? Was mich am Ende vielleicht gewann, war die neue Aufmerksamkeit, die
er mir schenkte. Er war wie ein Junge in einem Zustand der Erregung, sexueller
Erregung, und ich war sein Objekt. Ich war geschmeichelt; anflugsweise, trotz
allem, sogar amüsiert. Dunkel mag ich etwas Unappetitliches dabei empfunden
haben, wie bei der Erregung eines Hundes, der nach Aas gräbt, das nicht tief
genug verscharrt ist. Ich war aber nicht in der Lage, Linien zu ziehen. Was
wollte ich schließlich? Ich wollte einen Ausschluß: ausgeschlossen sein vom
Denken, vom Schmerz, vom Zweifel, vom Begreifen, bis der Mittag käme. Bis auf
dem Signal Hill die Mittagskanone wummern würde und ich, mit einer Flasche
Benzin auf dem Sitz neben mir, entweder an der Kette vorbei und die Avenue
hinunterführe oder nicht hinunterführe. Aber nicht denken bis dahin; die Vögel
singen hören, die Luft auf meiner Haut fühlen, den Himmel sehen. Leben.
    Ich ergab mich also.
Vercueil wickelte ein Handtuch um seine Hand und brach noch mehr Glas heraus,
bis das Loch so groß war, daß ein Kind hätte hindurchklettern können. Ich gab
ihm die Schlüssel. Ein Schubser, und weg waren wir.
    Wie Liebende, die die
Schauplätze ihrer ersten Erklärungen wieder aufsuchen, nahmen wir die Straße
oberhalb von Muizenberg an der Küste entlang. (Liebende! Was hatte ich Vercueil
je erklärt? Daß er aufhören solle zu trinken. Was hatte er mir erklärt? Nichts:
vielleicht nicht einmal seinen wahren Namen.) Wir parkten an derselben Stelle
wie vorher schon einmal. Jetzt: Weide dich ein letztes Mal an dieser Aussicht,
sagte ich mir, die Fingernägel in meine Handflächen grabend und hinausschauend
über False Bay, die Bucht der falschen Hoffnungen, und südwärts über die
rauhen, winterlichen Gewässer des am wenigsten beachteten der Ozeane.
    »Wenn wir
ein Boot hätten, könnten Sie mich hinausbringen auf die See«, murmelte ich.
    Südwärts: Vercueil und ich
allein, unter Segeln, bis wir die Breiten erreichten, wo die Albatrosse
fliegen. Wo er mich an ein Faß oder eine Planke binden könnte, egal an was, und
mich auf den Wellen hüpfend unter den großen weißen Schwingen zurücklassen
könnte.
    Vercueil wendete zurück auf
die Straße. Irrte ich mich, oder knatterte der Motor in seinen Händen
unbeschwerter als in meinen?
    »Tut mir
leid, wenn Sie nicht schlau aus mir werden«, sagte ich. »Ich versuche nach
besten Kräften, die Richtung nicht zu verlieren. Ich versuche, ein Gefühl der
Dringlichkeit aufrechtzuerhalten. Ein Gefühl der Dringlichkeit ist es, was mich
mehr und mehr verläßt. Wenn ich hier inmitten all dieser Schönheit sitze oder
auch zu Hause, wenn ich zwischen meinen eigenen Dingen sitze, fällt es mir
schwer zu glauben, daß es überall um mich herum eine Zone des Tötens und der
Erniedrigung gibt. Es kommt mir vor wie ein böser Traum. Etwas in mir drückt
und schubst mich dauernd. Ich versuche, keine Notiz davon zu nehmen, aber es
läßt nicht locker. Ich gebe einen Zoll nach; es drückt stärker. Mit
Erleichterung gebe ich auf, und das Leben ist plötzlich wieder gewöhnlich. Mit
Erleichterung gebe ich mich dem Gewöhnlichen zurück. Ich suhle mich darin. Ich
verliere mein Schamgefühl, werde schamlos wie ein Kind. Das Beschämende dieser
Schamlosigkeit: das ist es, was ich nicht vergessen kann, was ich danach nicht
ertragen kann. Deswegen muß ich mich zusammennehmen, ich darf nicht vom Weg
abkommen. Sonst bin ich

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