Coetzee, J. M.
kostete Überwindung, mich nach oben zu schleppen,
mich aus den nassen Sachen zu pellen, mich in einen Bademantel zu wickeln, ins
Bett zu gehen. Sand, der graue Sand der Kap-Ebenen, klebte mir zwischen den
Zehen. Ich werde nie wieder warm, dachte ich. Vercueil hat einen Hund, an den
er sich legen kann. Vercueil weiß, wie man lebt in diesem Klima. Aber was mich
betrifft und diesen kalten Jungen, der bald in die Erde gelegt werden wird, uns
wird kein Hund mehr helfen. Schon ist Sand in seinem Mund, dringt ein, fordert
ihn zurück.
Sechzehn Jahre, seit ich
ein Bett mit einem Mann oder Jungen geteilt habe. Sechzehn Jahre allein.
Wundert Dich das?
Ich
schrieb. Ich schreibe. Ich folge der Feder, wohin sie mich führt. Was sonst
bleibt mir noch?
Ich
erwachte verstört. Es war wieder Nacht. Wo war der Tag geblieben?
Das Licht in der Toilette
war an. Auf dem Klo, mit der Hose um die Knie, dem Hut auf dem Kopf, fest
schlafend, saß Vercueil. Ich war starr vor Staunen.
Er wachte
nicht auf; im Gegenteil, obwohl sein Kopf schief an der Wand lehnte und der
Unterkiefer herabhing, schlief er selig wie ein kleines Kind. Seine dürren
Oberschenkel waren so gut wie unbehaart.
Die
Küchentür stand offen, und Müll aus dem umgekippten Eimer lag über den Boden
verstreut. An einem alten Einwickelpapier machte der Hund sich zu schaffen. Als
er mich sah, ließ er schuldbewußt die Ohren hängen und schlug heftig mit dem
Schwanz. »Zuviel!« murmelte ich: »Zuviel!« Der Hund schlich hinaus.
Ich setzte
mich an den Tisch und gab mich den Tränen hin. Ich weinte nicht wegen dem
Wirrwarr in meinem Kopf, nicht wegen der Schweinerei im Haus, ich weinte wegen
dem Jungen, wegen Bheki. Wo ich mich auch hinwandte, hatte ich ihn vor mir, die
Augen geweitet im Ausdruck kindlicher Ratlosigkeit, mit der er seinem Tod
begegnet war. Mit dem Kopf auf den Armen schluchzte ich, trauernd um ihn, um
das, was ihm genommen worden war, um das, was mir genommen war. So eine gute Sache,
das Leben! So ein wundervoller Gedanke, den Gott da gehabt hatte! Der beste
Gedanke, den es je gegeben hatte. Ein Geschenk, das großzügigste aller
Geschenke, endlos durch die Generationen sich erneuernd. Und nun Bheki, des
Lebens beraubt, weg, entrissen!
»Ich will
nach Hause!« Das, zu meiner Schande, hatte ich Mr. Thabane vorgejammert, dem
Schuhverkäufer. Aus der Kehle eines alten Menschen die Stimme eines Kindes.
Heim, zurück in mein sicheres Haus, in mein Bett des Kindheitsschlafes. Bin ich
jemals ganz wach gewesen? Ich könnte auch fragen: Wissen die Toten, daß sie tot
sind? Nein: den Toten ist nicht gegeben, etwas zu wissen. Aber wenigstens
Hinweise können wir bekommen in der Tiefe unseres Schlafes. Ich habe Hinweise,
die älter sind als jede Erinnerung, unerschütterlich, daß ich einstmals lebte.
Ich lebte und wurde dann dem Leben gestohlen. Ein Diebstahl fand statt, aus der
Wiege: ein Kind wurde genommen, und an seiner Stelle wurde eine Puppe
zurückgelassen, um genährt und großgezogen zu werden, und diese Puppe ist das,
was ich Ich nenne.
Eine Puppe?
Ein Puppenleben? Ist es das, was ich gelebt habe? Ist es einer Puppe gegeben,
einen solchen Gedanken zu ersinnen? Oder kommt und geht der Gedanke wie ein
weiterer Hinweis, ein Lichtblitz, ein Durchbohren des Nebels mit der Lanze der
Intelligenz eines Engels? Kann eine Puppe eine Puppe erkennen? Kann eine Puppe
um den Tod wissen? Nein: Puppen wachsen, sie lernen das Sprechen und Laufen,
sie gehen um die Welt; sie altern, sie welken, sie verbleichen; sie werden ins
Feuer geschoben oder in der Erde begraben; aber sie sterben nicht. Sie
existieren immer wieder in jenem Moment versteinerter Überraschung vor aller
Besinnung, als ein Leben fortgenommen wurde, ein Leben, das nicht das ihre war,
sondern an dessen Stelle sie als ein Zeichen zurückgelassen werden. Ihr Wissen
ein Wissen ohne Substanz, ohne irdisches Gewicht, wie der Kopf einer Puppe
selber, leer, luftig. Wie sie selber nicht Babys sind, sondern die Ideen von
Babys, runder, rosiger, mit Augen blickloser und blauer, als ein Baby sie je
haben könnte, nicht das Leben lebend, sondern eine Idee des Lebens,
unsterblich, unvergänglich wie alle Ideen.
Hades,
Hölle: das Reich der Ideen. Mit welcher Notwendigkeit soll die Hölle im Eis der
Antarktis ihren Ort haben oder unten im Abgrund eines Vulkans? Warum kann die
Hölle nicht am Fuß von Afrika sein, und warum können die Geschöpfe der Hölle
nicht unter den Lebenden wandeln?
»Vater, kannst du
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