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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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nicht
sehn, daß ich brenne?« flehte das Kind, am Bett des Vaters stehend. Aber sein
Vater, weiterschlafend, träumend, sah es nicht.
    Das ist der Grund – ich
bringe es jetzt vor, damit Du es
siehst –, warum ich mich so fest an die Erinnerung an meine Mutter klammere.
Denn wenn sie es nicht war, die mir das Leben schenkte, dann war es niemand.
Ich klammere mich nicht nur an die Erinnerung an sie, sondern an sie selbst, an
ihren Leib, an meine Geburt aus ihrem Leib in die Welt. Ich trank ihren Leib
als Blut und Milch und kam zum Leben. Und wurde dann gestohlen, und bin seitdem
verloren.
    Es gibt ein Foto von mir,
das Du gesehen hast, an das Du Dich aber wohl nicht erinnern wirst. Es ist 1918
aufgenommen worden, als ich noch keine zwei war. Ich bin auf meinen Füßen; ich
scheine nach der Kamera zu greifen; meine Mutter, hinter mir kniend, hält mich
an so etwas wie Zügeln zurück, die mir um die Brust gehen. An einer Seite, mich
nicht beachtend, steht mein Bruder Paul, die Mütze keck auf dem Kopf.
    Meine
Brauen sind gerunzelt, die Augen sind streng auf die Kamera gerichtet. Blinzele
ich lediglich in die Sonne, oder habe ich, wie die Wilden von Borneo, eine
dunkle Ahnung, daß die Kamera mir die Seele rauben wird? Schlimmer: Hält meine
Mutter mich davon ab, die Kamera zu Boden zu schlagen, weil ich auf meine
Puppenart weiß, daß die Kamera sehen wird, was das Auge nicht sehen kann: daß
ich nicht da bin? Und weiß meine Mutter das, weil auch sie nicht da ist?
    Paul, zu
dem meine Feder mich führte, tot. Ich hielt seine Hand, als er ging. Ich
flüsterte zu ihm: »Du wirst Mama sehen, ihr werdet beide glücklich sein.« Er
war blaß, sogar seine Augen hatten den fahlen Farbton fernen Himmels. Er
schenkte mir einen müden, leeren Blick, wie um zu sagen: Wie wenig du
verstehst! Hat Paul jemals wirklich gelebt? Mein Schwesterleben, so hat er mich
einmal, mit geliehenen Worten, in einem Brief genannt. Ist ihm am Ende
klargeworden, daß er sich geirrt hatte? Haben diese glasigen Augen mich
durchschaut?
    Wir wurden
an jenem Tag in einem Garten fotografiert. Hinter uns sind Blumen, die aussehen
wie Stockrosen; zu unserer Linken ist ein Beet Melonen. Ich erkenne den Ort
wieder. Er ist Uniondale, das Haus in der Church Street, das mein Großvater
kaufte, als Straußenfedern Hochkonjunktur hatten. Jahr um Jahr sprossen Obst
und Blumen und Gemüse in diesem Garten, schütteten ihren Samen aus, starben,
erstanden wieder aus sich selbst, segneten uns mit der Fülle ihrer Präsenz.
Aber gepflegt von wessen Liebe? Wer beschnitt die Stockrosen? Wer legte die
Melonenkerne in ihr warmes, feuchtes Beet? War es mein Großvater, der um vier in
der eisigen Frühe aufstand, um die Schleuse zu öffnen und Wasser in den Garten
zu leiten? Wenn er es nicht war, wer war dann der rechtmäßige Besitzer des
Gartens? Wer sind die Geister und wer die Anwesenden? Wer sind sie, die sich –
außerhalb des Bildes – auf ihre Rechen stützen, auf ihre Spaten stützen, darauf
wartend, wieder an die Arbeit zu gehen, die sich auch auf den Rand des
Rechtecks stützen, ihn umbiegen, ihn knicken?
    Dies
irae, dies illa, wenn die Abwesenden
anwesend sein werden, und die Anwesenden abwesend. Das Bild zeigt nicht mehr,
wer an jenem Tag auf dem Gartenfoto war, sondern es zeigt, wer nicht dort war.
Während sie all diese Jahre überall im Land an sicheren Orten verwahrt lagen,
in Alben, in Schreibtischschubladen, ist dieses Foto und Tausende
seinesgleichen auf subtile Weise gereift, metamorphosiert. Die Fixierung hat
nicht gehalten, oder die Entwicklung ging weiter, als man es sich je hätte
träumen lassen – wer kann wissen, wie es geschah? –, aber sie sind wieder
Negative geworden, eine neue Art Negativ, in dem wir zu sehen beginnen, was
einst außerhalb des Fotos lag, verborgen.
    Ist das der Grund, warum
meine Brauen gerunzelt sind, warum ich versuche, an die Kamera heranzukommen:
ahne ich dunkel, daß die Kamera der Feind ist, daß die Kamera keine Lügen über
uns verbreiten wird, sondern aufdecken wird, was wir in Wahrheit sind:
Puppenvolk? Stemme ich mich gegen die Zügel, um, wem auch immer, die Kamera aus
den Händen zu schlagen, bevor es zu spät ist? Und wer hält die Kamera? Wessen
formloser Schatten beugt sich zu meiner Mutter und ihren zwei Sprößlingen über
das bestellte Beet?
    Trauer nach dem Weinen. Ich
bin hohl, ich bin eine Schale. Jedem von uns sendet das Schicksal die richtige
Krankheit. Die meine eine Krankheit, die mich von innen

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