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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Schärfe ist das, was von allem gegangen ist. Statt dessen
fühlt er einen Zug, leicht, aber beständig, zum Stumpfsinn, zur
Gleichgültigkeit. Gleichgültig, sagt er zu sich und spricht das
zischende Wort aus und prüft, ob es scharf ist. Aber auch hier haben sich
Verschwommenheit, Abstumpfung breitgemacht. Alles tritt zurück, denkt er; in
einer Woche, einem Monat werde ich alles vergessen haben, ich werde unter den
Lotusessern weilen, abgesondert, mich treiben lassend. Ein letztes Mal versucht
er, den Schmerz des Abgesondertseins zu fühlen, aber alles, was zu ihm kommt,
ist eine flüchtige Traurigkeit.
    Ich weiß
nicht, ob ich mich verständlich mache, Mr. Vercueil. Ich spreche über
Entschluß, über den Versuch, an meinem Entschluß festzuhalten; und über mein
Versagen. Ich gestehe, ich ertrinke. Ich sitze hier neben Ihnen und ertrinke.«
    Vercueil saß schlaksig an
die Tür gelehnt. Der Hund winselte leise. Mit den Pfoten auf dem Vordersitz
stehend, spähte er nach vorn, begierig, wieder voranzukommen. Eine Minute
verging.
    Dann zog Vercueil aus
seiner Jackentasche eine Schachtel Streichhölzer und hielt sie mir hin. »Tun
Sie’s jetzt«, sagte er.
    »Was?«
    »Es.«
    »Wollen Sie
das wirklich?«
    »Tun Sie’s jetzt. Ich steig
aus dem Wagen. Tun Sie’s, hier, jetzt.«
    In einem
seiner Mundwinkel tanzte ein Kügelchen Speichel auf und ab. Laß ihn verrückt
sein, dachte ich. Laß es möglich sein, dies über ihn zu sagen: daß er grausam
ist, verrückt, ein verrückter Hund.
    Er hielt mir, sie
schüttelnd, die Streichholzschachtel hin. »Machen Sie sich Sorgen wegen ihm?«
Er deutete auf den Mann mit dem Brennholz. »Der wird sich nicht einmischen.«
    »Nicht hier«, sagte ich.
    »Wir können
zum Chapman’s Peak fahren. Sie können über die Kante fahren, wenn es das ist,
was Sie wollen.«
    Es war wie
in einem Auto mit einem Mann in der Falle zu sitzen, der versucht, einen zu
verführen, und grob wird, wenn man nicht nachgibt. Es war wie
Zurückversetztwerden in die schlimmste Jungmädchenzeit.
    »Können wir
nach Hause fahren?« sagte ich.
    »Ich
dachte, Sie wollten es tun.«
    »Sie
verstehn nicht.«
    »Ich dachte, Sie wollten
einen Schubs auf den Weg. Ich gebe Ihnen einen Schubs.«
    Vor dem Hotel in Hout Bay
hielt er wieder an. »Haben Sie etwas Geld für mich?« sagte er.
    Ich gab ihm einen Zehnrandschein.
    Er ging zu dem
Straßenausschank und kam mit einer Flasche in einer braunen Papiertüte zurück.
»Nehmen Sie einen Schluck«, sagte er und schraubte den Verschluß ab.
    »Nein,
danke, ich mag keinen Brandy.«
    »Das ist
kein Brandy, das ist Medizin.«
    Ich nahm
einen kleinen Schluck und behielt ihn im Mund. Mein Zahnfleisch und mein Gaumen
brannten, wurden dann taub. Ich schluckte und schloß die Augen. Etwas in mir
begann sich zu heben: ein Vorhang, eine Wolke. Das also ist es? dachte ich. Ist
das alles? Zeigt Vercueil mir so den Weg?
    Er wendete
den Wagen, fuhr den Berg wieder hinauf und parkte auf einem Rastplatz hoch über
der Bucht. Er trank und bot mir die Flasche an. Vorsichtig trank ich. Der
Grauschleier, der über allem gelegen hatte, lichtete sich zusehends. Skeptisch,
mich wundernd, dachte ich: Ist es wirklich so einfach – es geht überhaupt nicht
um Leben und Tod?
    »Lassen Sie
mich Ihnen dies noch sagen«, sagte ich: »Was mich so weit gebracht hat, war
nicht mein eigener Zustand, meine Krankheit, sondern etwas ganz anderes.«
    Der Hund beklagte sich
leise. Vercueil streckte eine schlaffe Hand hin; der Hund beleckte seine
Finger.
    »Florences
Junge ist Dienstag erschossen worden.«
    Er nickte.
    »Ich habe
die Leiche gesehn«, fuhr ich fort, nahm noch einen Schluck und dachte: Soll ich
jetzt geschwätzig werden? Der Herr sei davor! Und werde ich geschwätzig, wird
Vercueil danach auch geschwätzig werden? Er und ich, unter dem Einfluß,
zusammen geschwätzig in dem kleinen Wagen?
    »Ich war erschüttert«,
sagte ich, »ich will nicht sagen erschlagen, auf das Wort habe ich kein
Recht, es gehört seinen eigenen Leuten. Aber ich bin immer noch – was? –
aufgewühlt. Es hat etwas zu tun mit seiner Leblosigkeit, seinem toten Gewicht.
Es ist, als ob er im Tod sehr schwer geworden wäre, wie Blei oder wie dieser
dichte, luftlose Schlamm, den man am Grund von Staubecken hat. Als ob er im Akt
des Sterbens einen letzten Seufzer von sich gegeben und all seine Leichtigkeit
aus ihm gewichen wäre. Jetzt liegt er mit diesem ganzen Gewicht auf mir. Nicht
drückend, bloß liegend.
    Es

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