Coetzee, J. M.
Zahlen einzeln vor, buchstabierte meinen
Namen. Mrs. Curren: neun Buchstaben, Anagramm für was?
Vercueil
klopfte und kam herein. »Wollen Sie etwas essen?« sagte er.
»Ich habe
keinen Hunger. Aber nehmen Sie sich, was Sie finden können.«
Ich wollte
allein gelassen sein. Aber er verweilte, besah mich neugierig. Ich saß im Bett,
mit Handschuhen an, den Schreibblock auf den Knien. Eine halbe Stunde hatte ich
mit der leeren Seite vor mir dagesessen.
»Ich warte bloß, daß meine
Hände warm werden«, sagte ich. Aber es waren nicht meine kalten Finger, die
mich vom Schreiben abhielten. Es waren die Pillen, von denen ich jetzt mehr
nehme, und öfter. Sie sind wie Rauchschwaden. Ich schlucke sie, und sie setzen
einen Nebel in mir frei, einen Nebel der Auflösung. Ich kann nicht die Pillen
nehmen und mit dem Schreiben fortfahren. Ohne Schmerz also kein Schreiben: ein
neues und schreckliches Gesetz. Außer daß, wenn ich die Pillen genommen habe,
nichts mehr schrecklich ist, alles ist gleichgültig, alles ist einerlei.
Trotzdem schreibe ich.
Mitten in der Nacht, während unten Vercueil schläft, nehme ich diesen Brief
wieder auf, um Dir noch eine Sache über diesen »John« zu erzählen, diesen
mürrischen Jungen, mit dem ich nie warm wurde. Ich möchte Dir erzählen, daß er,
obwohl ich ihn nicht mochte, deutlicher, eindringlicher bei mir ist, als Bheki
es je war. Er ist bei mir, oder ich bin bei ihm: er oder die Spur von ihm. Es
ist Mitternacht, aber es ist auch das Grau seines letzten Morgens. Ich bin hier
in meinem Bett, aber ich bin auch in Florences Zimmer mit dem einen Fenster und
der einen Tür und keinem anderen Ausweg. Vor der Tür warten Männer, kauernd wie
Jäger, um dem Jungen den Tod zu schenken. Im Schoß hält er die Pistole, die,
für dieses Intervall, die Jäger in Schach hält, die sein und Bhekis großes
Geheimnis war, die Männer aus ihnen machen würde; und neben ihm stehe ich, oder
schwebe ich. Der Lauf der Pistole ist zwischen seinen Knien, er streichelt ihn,
auf und ab. Er horcht auf das Gemurmel der Stimmen draußen, und ich horche mit
ihm. Er macht sich bereit für den Rauch, der seine Lungen ersticken wird, den
Tritt, der die Tür aufbrechen wird, den Feuerstoß, der ihn wegfegen wird. Er
macht sich bereit, die Pistole in dem Augenblick zu heben und den einen Schuß
abzufeuern, den er Zeit hat, in das Herz des Lichts zu feuern.
Seine Augen
sind ohne zu zwinkern auf die Tür gerichtet, durch die er die Welt verlassen
wird. Sein Mund ist trocken, aber er hat keine Angst. Sein Herz schlägt
gleichmäßig wie eine in dieser Brust sich ballende und sich öffnende Faust.
Seine Augen
sind offen, und meine, obwohl ich schreibe, sind geschlossen. Meine Augen sind
geschlossen, um zu sehen.
Innerhalb dieses Intervalls
ist keine Zeit, obwohl sein Herz den Takt schlägt. Ich bin hier in meinem
Zimmer, aber ich bin auch bei ihm, die ganze Zeit, so wie ich bei Dir bin, in
Übersee, schwebend.
Eine schwebende
Zeit, aber nicht Ewigkeit. Eine seiende Zeit, eine Spanne, vor der
Rückkehr der Zeit, in der die Tür aufbricht, und wir, erst er, dann ich, der
großen weißen Glut ins Auge sehen.
IV
Ich habe
einen Traum von Florence gehabt, einen Traum oder eine Vision. In dem Traum
sehe ich sie wieder die Government Avenue entlangschreiten, mit Hope an der
Hand und Beauty auf dem Rücken. Alle drei tragen sie Masken. Ich bin auch dort,
viele Menschen jeder Herkunft und Stellung sind um mich versammelt. Die Stimmung
ist festlich. Ich soll eine Vorstellung geben.
Aber Florence bleibt nicht
stehen, um zuzuschauen. Unbeirrt geradeaus blickend, geht sie weiter, wie durch
eine Zusammenkunft von Geistern.
Die Augen
ihrer Maske sind wie die Augen auf Abbildungen aus dem antiken Mittelmeerraum:
groß, oval, mit der Pupille in der Mitte: die Mandelaugen einer Göttin.
Ich stehe
mitten auf der Allee, gegenüber dem Parlamentsgebäude, umringt von Menschen,
und zeige meine Kunststücke mit dem Feuer. Über mir die Kronen mächtiger
Eichen. Aber meine Gedanken sind nicht bei meinen Kunststücken. Meine
Aufmerksamkeit ist auf Florence gerichtet. Ihre dunkle Jacke, ihr verblichenes
Kleid sind von ihr abgefallen. In einem weißen, im Wind flatternden Unterkleid,
die Füße nackt, der Kopf unbedeckt, die rechte Brust entblößt, schreitet sie
vorbei, das eine Kind, maskiert, nackt, schnell neben ihr laufend, das andere
Kind einen Arm über ihre Schulter streckend, zeigend.
Wer ist
diese
Weitere Kostenlose Bücher