Collector’s Pack
dagegen wirkte so gesammelt und auf Marina konzentriert, als berühre ihn die eingefrorene Welt gar nicht mehr. Als sei er im Gegenteil endlich da angekommen, wo er immer hinwollte.
Vielleicht ist er bereits so wahnsinnig, dass dieser Zustand auch keinen Unterschied mehr macht.
Peter fragte sich, wie lange er selbst überhaupt diese Welt ertragen konnte. Nur um nichts unversucht zu lassen, wiederholten sie das, was sie kurz vor der Explosion getan hatten, knieten mit den Amuletten in den Händen voreinander nieder und beteten. Aber falls dieses improvisierte Ritual wirklich das Loch in die Zeit gerissen haben sollte – sie konnten es damit nicht wieder schließen.
»Wir können hier nicht ewig rumsitzen, Niko.«
»Doch«, erwiderte sein Bruder schlicht. »Was sollten wir denn sonst tun?«
»Wir müssen versuchen, die Welt wieder zum Laufen zu kriegen. Wenn wir hierbleiben, drehen wir durch.«
Nikolas sah weiter Marina an, die ruhig und friedlich zu schlafen schien. Dann wandte er sich ab und sah Peter an. »Wo willst du hin?«
»Nach Rom.«
»Viel Glück.«
»Ich hab doch gesagt, ich geh nicht ohne dich, Niko.«
Nikolas zuckte mit den Achseln. »Dann wirst du hierbleiben müssen. Ich werde Marina nicht verlassen. Nie mehr.«
Peter hielt es nicht mehr aus, in der Zeit zu schweben, ohne zu wissen, wie viele Tage zugleich für ihn und seinen Bruder vergingen. In dem kleinen Dorf im Tal nahm er sich eine mechanische Armbanduhr aus einem kleinen Gemischtwarenladen, die an seinem Handgelenk sofort wieder zu ticken anfing. Peter weinte fast, als er das Geräusch hörte, dass ihm nun immerhin half, seine eigene Zeit zu bestimmen. Er führte nun auch einen kleinen Kalender, an dem er die Tage abhakte wie ein Schiffbrüchiger auf einer Insel. Denn so fühlte er sich. Gestrandet auf einer Insel in einem Ozean aus Tag und Stille.
Mit der Uhr und dem Kalender schuf Peter einen neuen Tagesrhythmus für sich und Nikolas. Er zwang seinen Bruder, ebenfalls eine Uhr zu tragen, und zumindest dieses leise Verticken ihrer eigenen Zeit schien seinen Bruder langsam aus seiner Starre herauszuschälen. Nach zwei Kalenderwochen war er endlich bereit aufzubrechen.
»Aber nur, wenn du mir versprichst, dass wir wieder hierher zurückkommen.«
»Das werden wir, Niko.«
Nikolas hinterließ Marina das Amulett von Sara-la-Kâli. Er war sicher, dass sie verstehen würde, falls sie aufwachte, bevor sie wieder zurück waren.
Falls.
Rom war weit. Sie versuchten, einen geparkten Wagen an der Straße zu starten, aber das erwies sich als aussichtslos. Selbst wenn sich der eine auf die Motorhaube legte, während der andere den Zündschlüssel drehte, reichte es nicht, um den Motor zu starten. Der Weg, den sie vor sich hatten, würde noch viel weiter werden.
»Wir haben ja Zeit«, sagte Nikolas achselzuckend. »Und wenn die Zeit wieder anspringt, können wir immer noch den Bus nehmen.«
»Hey!«, sagte Peter überrascht. »War das etwa ein Scherz, Niko?«
Sie fanden heraus, dass sie Fahrrad fahren konnten, wenn auch nur zu zweit. Eine unbequeme und schwankende Art der Fortbewegung auf holprigen Straßen, doch immerhin etwas schneller als zu Fuß. Peter genoss es, seinen Bruder so nah hinter sich auf dem Gepäckträger zu spüren.
Wie früher.
Sie schlingerten auf dem Fahrrad herum wie Kinder. Als Peter Nikolas dabei zum ersten Mal laut lachen hörte, dankte er Gott für diese geschenkte Zeit mit seinem Bruder.
Sie brauchten über ein Jahr bis Rom in ihrer neuen Zeitrechnung. Ein Jahr eines endlosen Nachmittags. Sie radelten und wanderten Richtung Westen, jeden Tag zwölf Stunden, und suchten sich dann einen Unterschlupf, den man verdunkeln konnte. Sie lernten, sich in ihrer eingefrorenen Welt zu orientieren und zu bewegen. Es war nicht leicht, mit dem Fahrrad die Menschen, Autos, Lastwagen und Mopeds im Slalom zu umfahren. Vor allem zu Menschen wahrten sie größtmöglichen Abstand, um niemanden umzubringen. Ihre Fortbewegung glich einem komplizierten Ballett. In Neu-Delhi kapitulierten sie fast vor der Masse an Menschen. In Pakistan kam es dann doch zu einem Unfall, als sie mit dem Fahrrad stürzten und einen Mann mit sich umrissen, der sofort verstarb. Bestürzt starrten sie auf die Leiche und überlegten, was überhaupt passieren würde, wenn die Zeit wieder normal weiterlief.
»Das Problem ist die Beschleunigung«, sagte Peter. »In der Zeit der Eingefrorenen bewegen wir uns nahezu unendlich schnell, also beschleunigen wir uns
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