Collector’s Pack
Abgrund des Weltalls.
Diese Wesen waren von der Natur in jahrmillionenlanger Evolution mit einer Immunisierung und einer mächtigen Waffe gegen die Infektion ausgestattet worden: Gnade und Liebe. Während der Mensch den Garten Eden in einem erloschenen Vulkan im späteren Ostafrika verließ und sich aufmachte, die Welt zu besiedeln, trafen weit entfernt jene Wesen die entscheidenden Vorbereitungen. Das Volk, das nicht mehr als einige Hunderttausend seiner Art zählte, lebte isoliert auf einem Mikrokontinent, der sich infolge der Kontinentaldrift von Südamerika abgespalten hatte und sich über den Pazifik auf die asiatische Platte zubewegte. Die Wesen, die sich und ihr Land Mh ’ u nannten, besaßen eine hochentwickelte Sprache und Schrift und intuitive, aber genaue Kenntnisse der Vorgänge in der Natur. In den wenigen Millionen Jahren ihrer Existenz lernten die Mh ’ u, die Prozesse der Natur zu verändern, ohne sie zu zerstören. Sie führten keine Kriege und töteten nicht. Sie lebten ohnehin im Durchschnitt einige hundert Jahre, den größten Teil davon in einer Art Tiefschlaf, den sie in kokonartigen Geweben zubrachten. Das Einzige, was die Mh’u schließlich je töteten, war sich selbst, als ihre Zeit gekommen war. Doch zuvor, durch viele Jahrtausende hindurch, webten sie in ihren Kokons am Schicksal der jungen Menschheit und suchten Wege, das Böse für alle Zeit von der Erde zu verbannen. Als das große Werk schließlich vollbracht war und die Infektion der Welt zurückgeschlagen werden konnte, beschloss das Volk der Mh’u, sich gemeinschaftlich aufzulösen, um mitsamt seinem Land aus der Welt zu verschwinden. Sie hinterließen kaum Spuren ihrer Existenz, gingen auf im ewigen Gedächtnis der Natur. Nur ihre Zeichen ließen sie zurück. Neun Amulette aus einem rätselhaften Material, mit denen sie das Böse versiegelten, und ihre Sprache, die in Fragmenten noch bei den Maya, den Hopi, den Ägyptern und im Sanskrit aufflackerte. Bevor die Mh’u sich und ihr Land vom Antlitz der Erde tilgten, trafen sie Vorkehrungen, programmierten die Amulette für alle Zukunft und überließen sie dann sich selbst, um den großen Plan der Gnade zu vollenden.
Wenn die Geschichte der Erde einen Tag zählte, gingen die Mh’u vier Sekunden vor Mitternacht ihrem selbst gewählten Untergang entgegen. Zwei Sekunden später wurde der Mensch sesshaft, gründete die ersten Hochkulturen und erzählte sich Mythen, die sämtlich von einem uralten Volk am Anbeginn der Zeit erzählten und von einem Bösen, das in den Tiefen der Erde lauerte, um den Menschen zu verderben und zu vernichten. Die neun Amulette der Mh’u wurden gefunden, aufbewahrt, verehrt und geraubt. Sie gingen verloren und wurden wiedergefunden, genau so, wie die Mh’u es vorhergesehen hatten.
Eingeschlossen im Schoß der Erde, auf der Glut des Erdmantels treibend, kreischte das Böse in Agonie, immer noch nicht vernichtet, aber geschwächt und gefangen. Im entscheidenden Augenblick war es ihm nicht gelungen, die Welt vollständig in Besitz zu nehmen. Doch die Mh’u hatten nicht ganz verhindern können, dass sich die noch junge Menschheit kurz infizierte und das Böse fortan in sich trug wie eine ewig schwärende Wunde, die irgendwann aufbrechen und sie vernichten würde. Das Böse zog sich zurück. Es hatte Zeit. Konnte warten. Tausend Jahre. Zehntausend Jahre. Ewig. Auf den Tag, an dem irgendwann die Saat aufgehen würde und ein Mensch die Pforten der Hölle öffnen würde.
III
2. Juli 2011, Nordatlantik
G ebrochen?« Peter starrte auf die fremde blasse Hand an seinem Arm, als sei sie ein gefährliches Tier, das ihn belauerte und nur noch auf den richtigen Augenblick wartete, um zuzuschlagen.
Wortlos halfen ihm die beiden Ärzte beim Aufrichten. Nach einigen wackeligen Schritten gehorchten auch die Beine wieder, und Peter konnte selbstständig gehen, wenn auch tapsend wie ein alter Mann.
»Machen Sie sich keine Sorgen, die Muskelatrophie wird sich legen«, erklärte der größere der beiden Ärzte.
Warum versuchen mir immer alle zu versichern, dass ich mir keine Sorgen machen müsse?
»Wie lange hab ich in diesem … Kokon gelegen?«
Wieder keine Antwort. Der kleinere Arzt reichte ihm frische, zusammengefaltete Kleidung. Unterwäsche, eine leichte Baumwollhose, T-Shirt, Socken, Sneaker. Alles in Weiß. Außerdem ein Handtuch und ein Stück rosa Seife, die irgendwie unpassend nach Rosen duftete. Peter fiel auf, dass sie der einzige Farbtupfer in diesem
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