Collins, Suzanne
werde der Spotttölpel sein.«
3
Butterblume liegt in Prims Armbeuge - es war immer seine
Aufgabe, Prim vor der Nacht zu beschützen. In seinen Augen spiegelt sich das
matte Glimmen des Sicherheitslichts über der Tür. Prim hat sich an meine Mutter
gekuschelt, und wie sie so schlafend daliegen, sehen sie aus wie vor einem
Jahr, am Morgen der Ernte, die mich in meine ersten Hungerspiele katapultierte.
Ich habe ein Bett für mich allein, weil ich noch nicht richtig gesund bin und
weil sowieso niemand mit mir in einem Bett schlafen kann, bei den Albträumen
und dem dauernden Hin-und-her-Gewälze.
Nachdem ich mich stundenlang von einer Seite auf die andere
geworfen habe, akzeptiere ich schließlich, dass es eine schlaflose Nacht wird.
Unter Butterblumes wachsamem Blick schleiche ich auf Zehenspitzen über den
kalten Fliesenboden zur Kommode.
Die mittlere Schublade enthält die mir zugeteilten
Kleidungsstücke. Jeder hier trägt die gleiche graue Hose und das gleiche graue
Hemd, das in den Hosenbund gesteckt wird. Unter der Kleidung verwahre ich die
wenigen Dinge, die ich bei mir trug, als ich aus der Arena geholt wurde. Die
Brosche mit dem Spotttölpel. Das Andenken von Peeta, ein goldenes Medaillon
mit Fotos: meine Mutter, Prim und Gale. Ein silberner Fallschirm, in den ein
Hahn zum Zapfen von Baumsaft eingewickelt ist, sowie die Perle, die Peeta mir
geschenkt hat, kurz bevor ich das Kraftfeld in die Luft gejagt habe. Die Tube
mit der Salbe hat Distrikt 13 ebenso konfisziert wie meinen Bogen und die
Pfeile, denn nur die Wachen haben die Erlaubnis, Waffen zu tragen. Sie liegen
jetzt im Arsenal.
Ich betaste den Fallschirm und fasse hinein, schließe die
Finger um die Perle. Dann setze ich mich im Schneidersitz aufs Bett und fahre
mit der zart irisierenden Perle über meine Lippen. Aus irgendeinem Grund
tröstet mich das. Ein kühler Kuss von dem, der sie mir geschenkt hat.
»Katniss?«, flüstert Prim. Sie ist aufgewacht und späht
durch die Dunkelheit zu mir herüber. »Was ist los?«
»Nichts. Hab nur schlecht geträumt. Schlaf weiter.« Ein Automatismus.
Prim und meine Mutter heraushalten, um sie zu schützen.
Vorsichtig, damit sie meine Mutter nicht weckt, steigt
Prim aus dem Bett, schnappt sich Butterblume und setzt sich neben mich. Sie
berührt meine Hand, die sich um die Perle geschlossen hat. »Du frierst ja.«
Sie zieht die Wolldecke vom Fußende des Bettes herauf und wickelt uns alle drei
hinein. Jetzt bin ich in ihre Wärme und in Butterblumes pelzige Hitze
eingehüllt. »Du kannst es mir ruhig sagen, weißt du. Ich kann ein Geheimnis
für mich behalten. Sogar vor Mutter.«
Jetzt ist es endgültig verschwunden. Das kleine Mädchen
mit der herausgerutschten Bluse, deren Zipfel aussieht wie ein Entenschwanz;
dem man bei den Tellern helfen musste, weil es noch nicht so hoch kam, und das
so lange bettelte, bis ich mit ihm die verzierten Kuchen im Schaufenster der
Bäckerei anschauen ging. Zeit und Schicksalsschläge haben Prim notgedrungen
älter werden lassen, zu schnell für meinen Geschmack, und jetzt ist sie eine
junge Frau, die blutende Wunden zusammennäht und weiß, dass man unserer Mutter
nicht so viel zumuten kann.
»Morgen früh werde ich mich bereit erklären, der
Spotttölpel zu sein«, vertraue ich ihr an.
»Weil du es willst oder weil du es musst?«, fragt sie.
Ich lache kurz auf. »Beides, glaube ich. Nein, ich will
es. Ich muss, wenn es den Rebellen hilft, Präsident Snow zu besiegen.« Ich
drücke die Perle in meiner Faust noch fester. »Wenn nur er nicht wäre ...
Peeta. Ich habe Angst, dass die Rebellen ihn hinrichten, wenn sie gewinnen,
weil sie ihn für einen Verräter halten.«
Prim denkt darüber nach. »Ich glaube, dir ist nicht klar,
wie wichtig du für die Sache bist, Katniss. Wichtige Leute bekommen
gewöhnlich, was sie wollen. Wenn du willst, dass Peeta von den Rebellen
verschont wird, dann kriegst du das auch hin.«
Es stimmt wohl, dass ich wichtig bin. Sie haben eine Menge
Scherereien in Kauf genommen, um mich zu retten. Sie haben mir sogar erlaubt,
noch mal Distrikt 12 zu besuchen. »Du meinst ... ich könnte verlangen, dass sie
Peeta Straffreiheit zusichern? Und dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt,
als Ja zu sagen?«
»Ich meine, du könntest so ziemlich alles verlangen, und
ihnen würde nichts anderes übrig bleiben, als Ja zu sagen.« Prim runzelt die
Stirn. »Die Frage ist nur, wie du sicher sein kannst, dass sie Wort halten.«
All die Lügen
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