Collins, Suzanne
analysieren: Was sollte es bringen, wie unser Feind
zu denken? Heute hätte es eindeutig etwas gebracht. Als Gale die Existenz des
Lazaretts hinter fragte, dachte er nicht an eine mögliche Epidemie, sondern an
das hier. Weil er die Grausamkeit unserer Gegner niemals unterschätzt.
Langsam drehe ich dem Lazarett den Rücken zu und finde
mich Cressida gegenüber, die ein paar Meter vor mir steht, neben sich die
Insekten. Seelenruhig. Geradezu cool. »Katniss«, sagt sie, »Präsident Snow hat
veranlasst, dass die Bombardierung live gezeigt wird. Dann trat er vor die
Kamera und sagte, das sei seine Art, den Rebellen eine Botschaft zu schicken.
Was ist mit dir? Möchtest du den Rebellen etwas sagen?«
»Ja«, flüstere ich. Das rote Blinklicht auf der Kamera
bannt meine Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass ich jetzt gefilmt werde. »Ja«, sage
ich etwas energischer. Alle treten zur Seite - Gale, Cressida, die Insekten -
und überlassen mir die Bühne. Aber ich starre nur auf das rote Licht. »Ich
möchte den Rebellen sagen, dass ich am Leben bin. Ich stehe hier in Distrikt 8,
wo das Kapitol soeben ein Lazarett mit unbewaffneten Männern, Frauen und
Kindern bombardiert hat. Keiner da drin wird überleben.« Der Schock, der mich
gelähmt hat, weicht langsam dem Zorn. »Euch allen möchte ich sagen: Solltet ihr
auch nur eine Sekunde lang glauben, dass das Kapitol uns im Fall einer Waffenruhe
fair behandeln würde, dann macht ihr euch etwas vor. Ihr wisst, wer sie sind
und was sie tun.« Meine Hände heben sich automatisch, als wollten sie auf all
das Grauen um mich herum deuten. »Das tun sie!
Und wir müssen zurückschlagen!«
Angetrieben von meinem Zorn, gehe ich auf die Kamera zu.
»Präsident Snow sendet uns eine Botschaft? Hier habe ich eine für ihn. Sie
können uns quälen und bombardieren und unsere Distrikte niederbrennen, aber
sehen Sie das hier?« Die Kamera folgt meinem ausgestreckten Arm, der auf die
brennenden Hoverplanes auf dem Dach des Lagerhauses gegenüber deutet. Das
Wappen des Kapitols auf einem Flügel leuchtet deutlich durch die Flammen. »Das
Feuer breitet sich aus!«, schreie ich jetzt, damit Snow auch ja kein Wort
verpasst. »Und wenn wir brennen, brennen Sie mit!«
Meine letzten Worte hängen in der Luft. Die Zeit scheint
stillzustehen. Ich fühle mich emporgetragen von einer Hitzewolke, die nicht
von außen kommt, sondern aus mir selbst.
»Schnitt!« Cressidas Stimme reißt mich zurück in die Wirklichkeit,
löscht mich. Sie nickt anerkennend. »Das war's!«
8
Boggs kommt zu mir und packt mich fest am Arm, dabei will
ich gar nicht weglaufen. Ich schaue zum Lazarett, sehe gerade noch, wie der
Rest des Gebäudes einstürzt, und mein Kampfgeist erlischt. All die Menschen,
Hunderte Verletzte, ihre Verwandten, die Sanitäter aus Distrikt 13, alle sind
tot. Ich drehe mich zu Boggs um, sehe die Schwellung in seinem Gesicht, die
Gales Stiefel hinterlassen hat. Höchstwahrscheinlich ist seine Nase gebrochen,
man muss kein Experte sein, um das zu sehen. Aber als er etwas sagt, klingt es
eher resigniert als wütend. »Alles zurück zum Startplatz.« Gehorsam mache ich
einen Schritt vorwärts und zucke zusammen, mein rechtes Knie tut höllisch weh.
Der Adrenalinstoß, der den Schmerz überlagert hatte, ist abgeebbt, und jetzt
klagen meine Körperteile um die Wette. Ich bin verletzt, ich blute, und in
meinem Schädel scheint jemand zu sitzen, der mir mit einem Hammer gegen die
linke Schläfe haut. Boggs untersucht rasch mein Gesicht, dann hebt er mich hoch
und läuft mit mir zum Startplatz. Auf halbem Weg kotze ich ihm auf die
kugelsichere Weste. Ich glaube, er seufzt, aber er ist so außer Atem, dass es
kaum zu hören ist.
Ein kleines Hovercraft, nicht das, mit dem wir gekommen
sind, wartet auf dem Startplatz. Kaum bin ich mit meinem Team eingestiegen,
heben wir auch schon ab. Keine bequemen Sitze diesmal, keine Fenster. Wir
befinden uns offenbar in einer Art Transporter. Boggs versorgt die
lebensgefährlich Verletzten notdürftig, damit sie bis zur Landung in Distrikt
13 durchhalten. Ich würde gern die Weste ausziehen, denn die hat auch eine
ordentliche Ladung von meinem Erbrochenen abbekommen, aber daran ist bei der
Kälte nicht zu denken. Ich strecke mich auf dem Boden aus und lege den Kopf in
Gales Schoß. Ich nehme so eben noch wahr, wie Boggs mich mit ein paar
Leinensäcken zudeckt.
Als ich aufwache, liege ich in meinem alten Krankenbett.
Die Wunden sind versorgt und ich habe es warm.
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