Colorado Saga
Verantwortung für die Familie lastete.
Nachdem sich die sechs Familienmitglieder gesetzt hatten, neigten sich die Köpfe, während sich Mahlon über die Sündhaftigkeit der Welt erging und Gott um Vergebung für die Verfehlungen erbat, die seine vier jüngeren Brüder seit dem Mittagsmahl begangen hatten. »Wir sind dessen eingedenk, daß Bruder Levi den Nachmittag in Hell Street verbracht hat, in Gasthöfen verkehrte und dem Bösen begegnet ist. Hilf ihm, dieses unehrenhafte Verhalten aufzugeben, und leite ihn wieder auf den richtigen Weg, o Herr!« Levi errötete und fühlte die verstohlenen Blicke seiner Brüder auf sich ruhen.
Mahlon nannte nun nacheinander all die Dinge, von denen er wünschte, Gott möge sich ihrer annehmen. Zum Abschluß sprach er die Gebetsformel, die für seine Familie die letzten hundertfünfzig Jahre bestimmend gewesen war: »Laß Dein göttliches Licht über uns leuchten, damit unser Name in all unseren
Handlungen ehrenhaft bleibe.« Der Rest der Familie stimmte mit einem inbrünstigen »Amen« ein.
Es war erstaunlich, daß bei diesem Mahl nur eine Frau anwesend war. Jeder der fünf Zendts war im heiratsfähigen Alter und galt als sehr gute Partie. Viele Farmerstöchter hatten die Zendts im Sinn, besonders die vier älteren Brüder; der Jüngste galt als etwas sprunghaft.
Aber die Zendts hatten immer erst spät geheiratet, in einem Alter, in dem die leidenschaftlichen Stürme der Jugend abgeflaut waren und die Familie in Ruhe die angrenzenden Felder geprüft und die besten ausgesucht hatte, die als Mitgift in Frage kamen. 1701 hatte die Zendt-Farm sechzig Morgen umfaßt, jetzt gehörten über dreihundert Morgen zu ihr. Solchen Zuwachs schaffte man nicht, wenn man das erstbeste Mädchen heiratete, dem man mit zwanzig begegnete. Man schaffte es durch allmähliches, geduldiges Erwerben, und wenn das Schicksal es so wollte, und man heiratete ein Mädchen aus dem weiteren Umkreis, dann verkaufte man ihre Morgengabe und erwarb dafür Land, das an die Zendt-Farm angrenzte. 1844 gab es in ganz Lancaster keine bessere Farm als die der Zendts, und sie würde durch die fünf heiratsfähigen Söhne sicher noch größer werden.
Der dreiunddreißigjährige Mahlon hatte mit der Zeit ein bestimmtes Mädchen ins Auge gefaßt, das ziemlich sicher ein beträchtliches Stück Land erben würde, wenn ihr Vater starb. Mahlon hatte seine Entscheidung noch niemandem mitgeteilt, am allerwenigsten dem Mädchen selbst, denn ein Mann überstürzte solche Dinge nicht, behielt sie aber im Auge.
Der nächste Tag war ein Freitag, der dritte unter den wichtigen Tagen, um die die mennonitische Woche kreiste: Sonntag diente der Gottesverehrung, Dienstag und Freitag den Geschäften auf dem Markt. Als das Essen beendet war, schob Levi den Stuhl zurück und sagte abrupt: »Ich muß mal nach der Sülze sehen.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, sagte Mahlon zu den Brüdern: »Wir müssen auf Levi aufpassen. Er wird sprunghaft.« Die anderen drei nickten zustimmend. In früheren Jahren waren auch sie hin und wieder sprunghaft gewesen, wollten Tabak rauchen, ein Bier in einem Gasthof in der Hell Street trinken oder Mädchen beäugen, aber jeder von ihnen hatte solche Wünsche unterdrückt und sich an die Metzgerei gehalten. Jetzt mußten sie Levi helfen, diese gefährliche Phase zu überwinden.
Levi zündete im Hof eine Laterne an und ging über den knirschenden Schnee zu dem kleinen rotgestrichenen Haus. Er stieß die Tür auf und warf einen prüfenden Blick über sein Königreich. Alles war in Ordnung. Die Wurstmaschine war blitzblank geputzt. Sechs Körbe mit Weißwurstkränzen standen in einer Reihe. Die zwanzig flachen Schüsseln für Hackfleisch waren säuberlich gestapelt, jede fast bis zum Rand gefüllt mit einer grauen Masse, die von einer satten gelben Fettschicht bedeckt war. Fertig. Aber um die Sülze auf dem Herd mußte er sich kümmern. Es tat ihm jetzt leid, daß er den Nachmittag in der Hell Street verbracht hatte, statt die Sülze fertig zu machen.
Levi mochte von allen Wurstwaren, die er herstellte, die Sülze am liebsten. Ihrer Zubereitung schenkte er besondere Aufmerksamkeit. In ganz Lancaster hieß es: »Wenn Sie Sülze wollen, gehen Sie zu Levi Zendt.«
Er stand jetzt beim Herd, fischte mit großer Geschicklichkeit die weißen Schweinsknochen heraus und achtete sorgsam darauf, daß die Knorpel im Topf blieben, denn sie machten die Zendtsche Sülze so wohlschmeckend. Dann setzte er den Kessel mit
Weitere Kostenlose Bücher