Colorado Saga
gewöhnten sich immer mehr Fuhrleute an, einen kurzen Aufenthalt in Lampeter einzulegen, und da sie ein zügelloser Haufen waren, bekam die Hauptdurchzugsstraße den Namen »Hell Street«. An jedem Baum war ein Conestoga angebunden, einer jener großen Planwagen mit riesigen Hinterrädern, auf denen eine Familie mitsamt ihrem Hausrat mühelos Platz fand.
»Treffen wir uns in der Hell Street«, schrien sich die Fuhrleute zu, wenn sie Philadelphia verließen und sich auf den Heimweg machten. Und wenn dann die langen Planwagen, von sechs Schecken gezogen, klingelnd in die Hell Street einfuhren - die beiden Leitpferde trugen je fünf Glöckchen am Zaumzeug, das zweite Paar je vier, das dritte Paar je drei -, widerhallte die Straße von Fröhlichkeit. Viele Mädchen, die auf den Farmen der Umgebung ein eintöniges Leben führten, strömten in die Gasthöfe der Hell Street, angelockt vom lustigen Gebimmel der ankommenden Wagen.
Am Nachmittag des 4. Januar - es war ein Donnerstag - lenkte ein wütender Fuhrmann seinen
Wagen in völliger Stille durch die Hell Street. Die Pferde trugen nicht die vierundzwanzig Messingglöckchen, wie es sich für ein echtes Conestoga-Gespann gehörte, und die Leute traten aus den Gasthöfen auf die Straße, um sich diese lautlose Ankunft anzusehen. »Er hat die Glocken verloren!« rief ein Mädchen, und in kürzester Zeit hatten alle Gäste die Schankräume verlassen und standen um den unglückseligen Mann herum.
»Wo hast du denn deine Glocken gelassen, Amos?« rief einer.
»Das verdammte linke Hinterrad ist schuld«, erwiderte Amos, der das Leitpferd an einen Baum anband. »Es hat sich kurz vor Coatesville gelockert. Mußte aus'm Schneeloch rausgezogen werden.«
Unter den Conestoga-Fuhrleuten galten strenge Regeln. Wenn ein Fuhrmann in eine so mißliche Lage kam, daß er die Hilfe eines anderen brauchte, war er verpflichtet, dem Retter seine Glocken zu überlassen. Es war die schlimmste Demütigung, die einem Fuhrmann widerfahren konnte.
»Holst du dir einen neuen Satz Glocken?« fragte ein Gastwirt, als Amos das Gespann verließ.
»Denk' gar nicht daran«, brummte Amos. Er war ein hochgewachsener, knochiger Mann mit groben Gesichtszügen.
»Hörst du etwa auf!«
»Genau das«, antwortete er. Dann stürmte er zu dem Wagen zurück und begann, dem linken Hinterrad Tritte zu versetzen. Dabei stieß er so gotteslästerliche Flüche aus, wie sie selbst in Lampeter selten zu hören waren. Sein Gesicht nahm eine purpurrote Farbe an, und die Wörter, die er laut herausbrüllte, wurden immer obszöner, bis man fürchten mußte, die Plane würde davon versengt. Er versetzte dem Rad einen letzten heftigen Tritt, dann verschränkte er die Arme, warf dem Planwagen wilde Blicke zu und stieß einen summarischen Fluch aus, der zwar keine Obszönität enthielt, dafür aber ungefähr eine Minute dauerte. Nachdem dies vollbracht war, breitete er seine Arme aus und blickte in die Menge.
»Jeder von euch kann diesen beschissenen Wagen haben. Ich will ihn nicht mehr sehen.« Damit ging er mit langen Schritten in den »Weißen Schwan«.
Vom Rand der Menge hatte ein junger Mennonit in schwarzem Anzug und flachem Hut diesen bemerkenswerten Auftritt beobachtet. Er war vierundzwanzig Jahre alt, untersetzt und trug einen rötlichen Bartkranz, der an den Ohren begann und in säuberlich dünner Linie um die Kinnspitze lief. Sein kantiges Gesicht sah aus, als ob es gerahmt wäre. Unauffällig begutachtete der junge Mann den verlassenen Conestoga, der offensichtlich schon reichlich alt war. »Vermutlich hat er vierzig Jahre gedient«, murmelte ein Farmer, der daneben stand. »Vom Anstrich ist ja kaum noch was übrig.« Die ehemals dunkelblaue Farbe des Wagenkastens war zu einem faden Hellblau verblichen, das leuchtende Rot von Rädern und Deichsel war nur noch ein trübes Grau-Orange. »Dieses Hinterrad tut's nicht mehr lang«, sagte der Farmer und stieß ein paarmal mit dem Fuß dagegen. »Klappert ja furchtbar.«
Wie sie den alten Wagen betrachteten, bog ein Spätankömmling aus Philadelphia in die Hell Street ein. Mit einem Blick hatte er erfaßt, was seinem Gefährten passiert war. »Guter Gott! Amos Boemer hat die Glocken nicht mehr!« rief er, und eine Menge Leute kamen aus dem »Weißen Schwan«, um ihn zu begrüßen.
»Jakob Dietz mußte ihn aus einem Schneeloch rausziehen«, erklärte einer der Männer, »östlich von Coatesville.«
Der Neuankömmling ging um den alten Conestoga herum und versetzte
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