Colorado Saga
Chicago in den Westen brachte sie in Kontakt mit dem, was Charlotte »das echte Amerika« nannte; und als sie Omaha und den Anfang der Union Pacific erreicht hatten, hatte sie sich bereits hoffnungslos in dieses weite Land verliebt, dem sie sich verwandt fühlte. Dieses Land war gleich ihr: kühn, allem Neuen zugetan, unerschrocken, voll von Überschwang, der bis zum Exzeß gehen konnte. Auch die Männer gefielen ihr, diese gutgenährten Kaufleute mit den roten Gesichtern, die sich flüsternd über die große Wirtschaftskrise unterhielten. Natürlich waren sie etwas beunruhigt, aber sie fürchteten sich nicht. Ihr gefielen die herzhaften Stimmen, das ungekünstelte Benehmen und die offene Art, in der die Männer sie bewunderten. Als ihr Zug endlich in Nebraska ankam, waren sie und ihr Vater von vier Familien eingeladen worden, einige Tage in deren Häusern zu verbringen, und sie hatte vor, alle Einladungen anzunehmen.
In Omaha tauchten sie sogleich in ein Meer wirrer Anweisungen und Gegenanweisungen, denn das Gefolge der beiden hohen Herrschaften hatte sich in
der Stadt niedergelassen, und die Bediensteten stellten allseits unerhörte Forderungen: »Der
Großfürst braucht einfach zweimal am Tag ein Bad, und das Wasser muß heiß sein, verstehen Sie mich, heiß!!« Bezüglich des Essens hagelte es Sonderwünsche. Auch die sieben amerikanischen Generäle hatten Probleme, doch dafür waren ja ihre Ordonnanzen zuständig; nur die französischen und englischen Finanzmagnaten mußten mit ihren Schwierigkeiten allein fertigwerden. Die Verwirrung wurde noch gesteigert durch die Anwesenheit von vier allgegenwärtigen amerikanischen Journalisten, die jeden interviewen wollten; ferner von zwei Fotografen, die eifrig Bilder knipsten, die hundert Jahre später wie Schätze gehütet würden, sowie von einem deutschen Aquarellisten, der Bilder nach dem Leben malte.
Das war der amerikanische Westen, das Land der
Indianer und Büffel, der Traum von Millionen
Europäern, die aus dem grauen Einerlei ihres dumpfen Stadtalltags flüchten wollten. Alles war interessant, und als Charlotte Buckland in den Straßen von Omaha einen Cowboy, einen chinesischen Eisenbahnarbeiter und einen Pawnee-Indianer erblickte, schob sie sie alle drei schnell in eine Reihe zusammen und ließ sich mit ihnen fotografieren.
Auf dem Bild sehen wir sie, zwischen dem Chinesen
und dem Indianer stehend: ein schönes, schlankes
englisches Mädchen mit einem lausbübischen Lächeln. Sie trägt einen langen Rock, eine sommerliche Bluse mit Rüschen an den Ärmeln, um ihre schlanke Taille einen schweren Ledergürtel. Zufällig kam auch Leutnant Mercy ins Bild, etwas abseits stehend. (Die beiden hatten einander zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennengelernt.).
»Ich bin Leutnant Mercy«, sagte der junge Mann und trat auf sie zu. »Ich habe die Aufgabe, Sie zu beschützen.«
Sie ließ den Indianer und den Chinesen stehen und trat mit ausgestreckter Hand auf Mercy zu. »Ich bin Charlotte Buckland, und dort drüben steht mein Vater und will diesem gräßlichen kleinen Mann noch einen Schrankkoffer abkaufen; ich hoffe nur, daß ihn dabei nicht der Schlag trifft.«
Die beiden gesellten sich zu Buckland, und nach wenigen Augenblicken hatte Leutnant Mercy den Handel zur allgemeinen Zufriedenheit abgeschlossen. Dann führte er sie durch den Bahnhof und zeigte ihnen den Zug, den sie bald besteigen würden. In diesem Augenblick dampfte eine abgenutzte kleine Lokomotive mit einem Bienenkorbschlot in die Station, und Charlotte rief: »Sieh dir dieses süße kleine Ding an! Wird es uns bis hinauf nach Wyoming bringen?« Aber Mercy deutete stolz auf ein schwarzes Ungetüm, das auf einem anderen Gleis einfuhr: »Das ist die unsere!«
»Papa!« rief Charlotte. »Schau dir diesen Riesenkäfer an, der uns fressen will!« Darauf Mercy: »Ein Käfer muß auch Flügel haben«, aber sein Vergleich hinkte etwas, und Buckland starrte ihm ins Gesicht. Charlotte verstand, was der junge Offizier meinte, und rief: »Er hat ja Flügel! Und wir werden nach Wyoming fliegen!« Sie wirbelte durch den Bahnhof, kehrte zu ihrem Vater zurück und faßte ihn an beiden Händen: »Papa, hier bleibe ich. Ich fühle, daß es so kommen muß. Ich fliege einfach mit meinem schwarzen Käfer weg, und fort bin ich.«
Es war schon fast Nacht, als die aufsehenerregende Gesellschaft endlich mit Kind und Kegel in
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