Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
dann aber an der Anlegestelle Rialto die Nummer zwei Richtung Lido. Das brachte zwar nur wenige Minuten, doch etwas in Pattas Stimme hatte ihm bedeutet, dass er sich besser sputen sollte.
Da er in der Eile keine Zeitung gekauft hatte, gab er sich mit den Schlagzeilen zufrieden, die er um sich sah. Noch ein Politiker, den man in Gesellschaft eines brasilianischen Transsexuellen gefilmt hatte; weitere Beteuerungen des Wirtschaftsministers, alles sei gut und werde immer besser, die Meldungen [48] über Fabrikschließungen und Arbeitslose seien kalkulierte Übertreibungen, bewusste Täuschungsmanöver der Opposition, um den Leuten Angst und Misstrauen einzuflößen. Und wieder hatte sich ein Arbeitsloser mitten in der Innenstadt mit Benzin übergossen und angezündet, diesmal in Triest.
Als sie an der Universität vorbeifuhren, blickte er von den Schlagzeilen auf. Aber auch dort sah er nichts Neues. Wie schön wäre es, wenn eines Tages, gerade während er unter diesen Fenstern entlangglitt, Paola eins davon aufstoßen und ihm zuwinken würde, vielleicht seinen Namen rufen und laut verkünden würde, dass sie ihn liebe und immer lieben werde. Er wusste, er würde sich nicht lumpen lassen und ihr dasselbe zurufen. Der Mann neben ihm schlug seine Zeitung um, und Brunetti wandte sich wieder dem Gazzettino und den Neuigkeiten zu, die doch nie neu waren. Ein junger Fahrer hatte um zwei Uhr morgens die Kontrolle über den Wagen seines Vaters verloren und war gegen eine Platane gerauscht; eine alte Frau war von einem angeblichen Mitarbeiter der Stromgesellschaft um ihre Pension gebracht worden; Würmer im Tiefkühlfleisch eines großen Supermarkts.
Bei San Zaccaria stieg er aus und ging am Wasser entlang, und das Spiel des Winds auf den Wellen steigerte seine Laune noch mehr. Kurz vor zehn schritt er zur Questura hinein und begab sich geradewegs zu Pattas Büro. Signorina Elettra Zorzi, die Sekretärin seines Vorgesetzten, saß an ihrem Computer, so rein wie die Lilien auf dem Felde; ihre Bluse konnte nur aus Seide sein, wäre das gold und weiß changierende Muster an einem anderen Stoff doch nur verschwendet.
[49] »Guten Morgen, Commissario«, begrüßte sie ihn förmlich. »Der Vice-Questore verlangt Sie dringend zu sprechen.«
»Mir geht es ebenso, Signorina«, erwiderte Brunetti und klopfte an die Tür.
Auf das barsche »Avanti!« hin hob Brunetti die Augenbrauen und Signorina Elettra die Finger von den Tasten.
»Oje, oje«, sagte sie warnend.
»I am just going inside and may be some time«, zitierte Brunetti zu ihrer Verblüffung.
Patta erwartete ihn in kühler Feldherrenhaltung, wie Brunetti es schon oft: erlebt hatte. Er nahm Haltung an und ging zu dem Stuhl, den Patta ihm vor dem Schreibtisch anwies.
»Warum bin ich letzte Nacht nicht gerufen worden? Warum hat man mich in dieser Sache nicht informiert?« Pattas Stimme war voller Zorn, aber ruhig, wie es sich für einen geplagten Chef gehörte, der von keinem seiner Leute, erst recht nicht von dem gerade Anwesenden, Unterstützung erwarten konnte.
»Ich habe Sie über den Todesfall informiert, als ich unser Abendessen verlassen musste, Dottore«, sagte Brunetti. »Als wir die ersten Ermittlungen beendet hatten, war es nach drei Uhr morgens, und zu dieser Stunde wollte ich Sie nicht stören.« Bevor Patta mit der üblichen Behauptung kommen konnte, er sei zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit, die Pflichten seines Amts zu tragen, fuhr Brunetti fort: »Ich weiß, ich hätte das tun sollen, Signore, aber ich dachte, auf ein paar Stunden kommt es nicht an, wir könnten uns umso besser mit dem Fall befassen, wenn wir beide ausgeschlafen sind.«
»Das sind Sie ja jetzt wohl in der Tat«, konnte Patta sich [50] nicht verkneifen. Brunetti ging darüber hinweg und setzte eine beflissene Miene auf.
»Sie scheinen keine Ahnung zu haben, wer die Tote ist«, sagte Patta.
»Die Frau von oben hat gesagt, es handele sich um Costanza Altavilla, Dottore«, erklärte Brunetti zuvorkommend.
Patta bezwang seine Ungeduld nur mit Mühe. »Sie ist die Mutter des Tierarztes, zu dem mein Sohn früher gegangen ist. Merken Sie sich das.« Patta ließ Brunetti Zeit, die Bedeutung dieser Tatsache in sich aufzunehmen. »Ich habe sie einmal getroffen.«
Es kam selten vor, dass Patta ihn sprachlos machte, aber im Lauf der Jahre hatte Brunetti auch für dieses seltene Ereignis eine Strategie entwickelt. Er setzte ein überaus ernstes Gesicht auf, nickte verständig und ließ ein
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