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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Routine aufgesucht und keinen [57]  offiziellen Auftrag, sich näher mit den Umständen ihres Todes zu befassen.
    Der andere ließ sich sehr viel Zeit mit einer Antwort und platzte schließlich heraus: »Also ...«, verstummte aber gleich wieder und sagte nach einer weiteren, schier endlosen Pause mit hörbarer Beunruhigung: »Ich wusste nicht, dass die Polizei eingeschaltet wurde.«
    Brunetti hielt es für das Beste, ihn in diesem Glauben zu lassen. »Wir wurden schlichtweg als Erste benachrichtigt, Dottore«, sagte er unverbindlich. Dann schaltete er auf den geplagten Beamten um, dem die Unfähigkeit seiner Mitmenschen schwer zu schaffen machte, und fügte hinzu: »Normalerweise schickt das Krankenhaus ein Team; wir sind nur dort hingegangen, weil die Person, die Ihre Mutter gefunden hat, als Erstes uns angerufen hat.«
    »Aha, verstehe«, sagte Niccolini schon etwas ruhiger.
    Brunetti fragte: »Darf ich wissen, wo Sie jetzt sind, Dottore?«
    »Im Krankenhaus, ich warte auf den Pathologen.«
    »Ich bin schon auf dem Weg«, log Brunetti, ohne zu zögern. »Es gibt einige Formalitäten zu erledigen; das können wir dann gleich machen.« Er ließ Niccolini keine Chance, darauf zu antworten, sondern erklärte knapp: »In zehn Minuten bin ich da«, und klappte sein Handy zu.
    Ohne nachzusehen, ob Vianello im Bereitschaftsraum war, verließ Brunetti die Questura und machte sich auf den Weg. Dabei ließ er sich noch einmal durch den Kopf gehen, wie Niccolini auf seinen Anruf reagiert und was er gesagt hatte. Dass jemand nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, war völlig normal, demnach war die Nervosität, die er in der [58]  Stimme des Mannes bemerkt hatte, wohl nicht weiter verwunderlich. Dazu kam noch, dass Dottor Niccolini von dem Krankenhaus aus gesprochen hatte, in dem seine tote Mutter lag.
    Die Schönheit des Tags weckte ihn aus seinen Grübeleien. Scharfer Geruch brennenden Laubs entführte ihn in längst vergangene Zeiten, als er und sein Bruder in spätherbstlicher Freiheit auf den Inseln der laguna herumstromerten, den Bauern bei der letzten Ernte des Jahres halfen und von unbändigem Stolz erfüllt ihren Lohn - Tüten voller Obst und Gemüse - nach Hause trugen.
    Er überquerte den Campo SS. Giovanni e Paolo und erfreute sich am Spiel des Lichts in den bunten Fenstern der Basilika. Dann gelangte er ins Ospedale. In der riesigen Eingangshalle herrschte Dämmerung, und auf dem Weg zum obitorio, der zwar durch Wandelgänge und Innenhöfe führte, verlor sich durch die Mauern ringsum das Gefühl, im Freien zu sein.
    Im Warteraum vor der Pathologie stand ein Mann. Groß und kräftig gebaut, hatte er den Körper eines Ringers am Ende seiner Karriere; die Muskeln verloren bereits ihre Spannung, waren aber noch nicht zu Fett geworden. Er sah auf, als Brunetti eintrat, schien ihn aber nicht wirklich wahrzunehmen.
    »Dottor Niccolini?«, fragte Brunetti und streckte die Hand aus.
    Der Arzt musste sich offensichtlich erst von seinen Gedanken losreißen, ehe er die Anwesenheit eines Gegenübers zur Kenntnis nehmen konnte. »Ja«, sagte er schließlich. »Sind Sie der Polizist? Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen vergessen.«
    [59]  »Brunetti.«
    Niccolini nahm wie automatisch die dargebotene Hand, packte fest zu, ließ aber sofort wieder los. Brunetti fiel auf, dass sein linkes Auge etwas kleiner als das rechte war oder ein wenig schief stand. Beide waren dunkelbraun, ebenso sein Haar, das an den Schläfen zu ergrauen begann. Nase und Mund waren überraschend zierlich für einen Mann seiner Statur, als seien sie für ein kleineres Gesicht gedacht gewesen.
    »Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen treffen müssen«, sagte Brunetti. »Das muss sehr schwer für Sie sein.« Für solche Fälle sollte es eine Formelsprache geben, dachte Brunetti, die einem über die Befangenheit hinweghilft.
    Niccolini nickte, presste die Lippen zusammen, schloss die Augen und wandte sich plötzlich von Brunetti ab, als habe er an der Tür zum Leichenraum ein Geräusch gehört.
    Brunetti legte die Hände auf den Rücken. Viel zu oft hatte er hier schon gestanden und den typischen Geruch dieses Raums wahrgenommen: etwas durchdringend Chemisches, das vergeblich versuchte, diese andere, animalische, feuchtschwüle Ausdünstung zu überlagern. An der Wand gegenüber hing eins dieser Horrorplakate, denen man in Krankenhäusern nicht entgehen kann: grotesk vergrößerte Abbildungen von Zecken, die Enzephalitis und

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