Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
haben, der als Arzt im Krankenhaus arbeitet oder mit einer Ärztin verheiratet ist. Eine Genehmigung für den Umbau eines Hotels? Probleme mit dem Zoll, weil man ein historisch bedeutendes Gemälde bei seinem Umzug nach London mitnehmen möchte? Stets musste nur der Richtige mit dem richtigen Beamten oder jemandem sprechen, dem dieser Beamte einen Gefallen schuldete, und schon waren alle Schwierigkeiten aus dem Weg.
Brunetti befand sich nicht zum ersten Mal in einem Zwiespalt. In diesem Fall profitierte er davon - und natürlich war es im Sinne des Gemeinwohls -, dass Signorina Elettra die Justiz der Stadt an der Nase herumführte. Doch in anderen Fällen, wo nicht so ... nicht so rechtschaffene Personen das Sagen hatten, könnten die Folgen derartiger Manipulationen weniger ersprießlich sein.
Er gab diese Grübeleien auf, dankte ihr und ging in sein Büro zurück.
Nachdem er eine Stunde lang Berichte gelesen und abgezeichnet hatte, kam Signorina Elettra zu ihm herein. »Er ist der Mann meiner Träume«, verkündete sie, und Brunetti begriff sofort, dass es sich nur um den jungen Richter handeln konnte.
»Das heißt, er hat sich Ihre Erfahrung mit den Besonderheiten dieser Stadt zunutze gemacht?«
Sie bestätigte das mit einem sanften Nicken und frommen [255] Lächeln. »Seine Sekretärin hat ein gutes Wort für mich eingelegt, bevor sie mich zu ihm durchgestellt hat.«
»Worauf Sie ihn angestiftet haben, über gewisse juristische Bedenklichkeiten Ihres Ansuchens hinwegzusehen?«
Hatte er sie gekränkt? Auf jeden Fall antwortete sie etwas heftig: »Ich wüsste nicht, was in diesem Land juristisch noch unbedenklich sein sollte.«
»Wie dem auch sei, Signorina«, sagte Brunetti, »ich möchte gern wissen, was Sie erreicht haben.«
»Alles«, sagte sie mit unverhohlener Befriedigung. »Ich glaube, dieser junge Mann könnte sich für uns als Goldgrube erweisen.«
Brunetti dachte an die Warnung über dem Tor zur Hölle und zögerte einen Moment, sich einer Unternehmung anzuschließen, die juristisch nicht nur bedenklich, sondern schlichtweg inakzeptabel war, doch Heuchelei gehörte nicht zu seinen Lastern. Auch wusste er zu schätzen, dass sie den Plural gebraucht hatte, und daher meinte er lächelnd: »Ich zittere bei der Vorstellung, was Sie sonst noch von ihm erbitten könnten.«
Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Ich würde Sie mit so etwas niemals in Verlegenheit bringen, Dottore.«
»Nur sich selbst?«, fragte er, wobei er genau wusste, dass das unmöglich war.
Da sie nicht antwortete, bohrte er nicht weiter nach: Schließlich führte sie seit Jahren Recherchen durch, die weit über ihre Befugnisse hinausgingen. Aber wie sollte er die nächste Frage formulieren, ohne dass sie wie ein Vorwurf klang?
»An wen geht die Antwort zu Ihrer Anfrage?«
[256] »Natürlich an den Vice-Questore«, sagte sie schlicht, und Brunetti stellte sich plötzlich vor, wie sie das vor Gericht sagte: das Haar straff nach hinten gebunden, keinerlei Make-up im Gesicht, kein Schmuck; dezent gekleidet, zum Beispiel in einem dunkelblauen Kostüm mit einem bis unter die Knie gehenden unmodernen Rock, dazu vernünftiges Schuhwerk. Würde sie so weit gehen, auch noch eine Brille zu tragen? Den Blick demütig gesenkt vor der Hoheit des Rechts; die Ausdrucksweise maßvoll; keine Scherze, kein Geplänkel, keine klugen Sprüche. Zum ersten Mal fragte er sich, ob sie irgendeinen faden zweiten Vornamen hatte, den sie bei einer solchen Gelegenheit hervorzaubern würde: Clotilde, Olga, Luigia. Und Patta würde ans Messer geliefert.
»Sie sind imstande, ihm das anzutun?«, fragte Brunetti.
»Bitte, Dottore«, sagte sie pikiert, »Sie sollten mir schon ein wenig menschliche Gefühle oder Schwächen zugestehen.«
Tatsächlich gestand Brunetti ihr mehr als nur ein wenig davon zu und fragte daher geradeheraus: »Aber wenn nun etwas schiefgehen sollte - würden Sie Patta dafür büßen lassen?«
Die Frage schien sie aufrichtig zu schockieren. »Ach«, sagte sie gedehnt, »damit könnte ich nicht leben. Und Sie ahnen ja gar nicht, wie lange ich brauchen würde, den Mann abzurichten, der dann an seine Stelle käme.« Immerhin, dachte Brunetti, war hier etwas anderes als krasse Heuchelei am Werk.
»Und ich muss gestehen«, sagte sie widerstrebend, »dass er mir im Lauf der Jahre fast ans Herz gewachsen ist.« Als er sie das aussprechen hörte, kam Brunetti nicht umhin, ihr innerlich zuzustimmen.
[257] Sie ließ ihm Zeit,
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