Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
sich das Gesagte durch den Kopf gehen zu lassen, und bemerkte schließlich lächelnd: »Übrigens wird die Anfrage in Tenente Scarpas Namen abgeschickt.« Ihr Gebrauch des Passivs blieb von Brunetti nicht unbemerkt.
Er sah auch sofort, wie genial das war. »Demnach scheint der Tenente seit Jahren seine Befugnisse zu überschreiten? Und holt ohne richterlichen Beschluss Informationen ein«, sagte er nachdenklich, ohne es für nötig zu halten, auf die Spuren im Cyberspace hinzuweisen, die er dabei mit Sicherheit hinterlassen hatte.
»Er hat auch Bankcodes geknackt, Informationen der Telecom geklaut, streng geheime Dateien in staatlichen Ämtern durchwühlt und Kopien von Kreditkartenabrechnungen gestohlen«, sagte sie, empört über das Ausmaß der Niedertracht des Tenente.
»Ich bin schockiert«, sagte Brunetti. Und das war er wirklich: Was für ein Mensch war das, der sich eine so raffinierte Falle für den Tenente ausdachte? »Und alle diese Anfragen sind direkt über sein E-Mail-Konto gelaufen?« Er fragte sich, was für ein Labyrinth sie konstruiert hatte, um an die Antworten zu kommen.
Sie zögerte kaum merklich. »Der Tenente glaubt, er sei der Einzige, der das Passwort für sein Konto kennt«, erklärte sie strahlend, dann mit Mitleid in der Stimme, aber nicht im Blick: »Ich wollte ihn nicht damit belasten, die Antworten lesen zu müssen, also werden die automatisch auf eins der Konten des Vice-Questore weitergeleitet.« Brunetti musste an Giorgio denken, Signorina Elettras vielzitierten Freund, das Computergenie - aber sein Taktgefühl verbot ihm, den Namen laut auszusprechen oder gar danach zu fragen, [258] ob der Vice-Questore überhaupt etwas von diesem seinem Konto wusste.
»Erstaunlich, wie unbesonnen der Tenente seine eigene Adresse benutzt, um an diese Informationen heranzukommen«, sagte Brunetti und stellte sich vor, wie sicher sich Riverre und Alvise fühlen würden, wenn sie das wüssten.
»Wahrscheinlich hält er sich für zu clever, um erwischt zu werden«, meinte sie.
»Wie überaus dumm von ihm.« Brunetti erinnerte sich daran, wie oft der Tenente es schon darauf angelegt hatte, Signorina Elettra eins auszuwischen. »Er sollte wissen, wie gefährlich es ist«, meinte er, während ihr Lächeln immer breiter wurde, »sich einzubilden, mit so etwas durchzukommen.«
»Der Tenente kann meine Geduld manchmal schon sehr auf die Probe stellen«, sagte sie, und bei ihrem kühlen Lächeln wurde es Brunetti warm ums Herz.
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D as ungewohnte Gefühl, sich auf juristisch abgesichertem Terrain zu bewegen, schien Signorina Elettra Flügel zu verleihen, denn schon am folgenden Mittag hatte sie die fehlenden Informationen zusammen und kam damit in Brunettis Büro. Als sie ihm die Papiere auf den Schreibtisch legte, mochte sie sich zwar Mühe geben, ein so gleichgültiges Gesicht wie die blinde Justitia aufzusetzen, konnte aber ihre Zufriedenheit darüber, wie schnell sie ihre Aufgabe erledigt hatte, nicht ganz verbergen.
»Das war ein Kinderspiel, vielleicht sollte ich mir das zur Gewohnheit machen«, sagte sie, aber Brunetti durchschaute sofort, dass es ihr nicht ernst damit war.
»Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte er zurückhaltend und warf einen Blick auf das erste Blatt, die Kopie eines kraklig geschriebenen Dokuments. Die Unterschrift war nicht zu entziffern, darunter standen zwei weitere.
»Sie sollten sich das zweite Blatt ansehen, Signore«, riet sie. Es handelte sich um die Sterbeurkunde von Marie Reynard.
Nach all diesen Jahren wusste Brunetti immer noch nicht, ob Signorina Elettra es vorzog, ihm etwas zu erklären, oder ihn lieber von allein darauf kommen ließ. Um Zeit zu sparen, fragte er: »Worauf soll ich achten?«
»Das Datum, Signore.«
Das erste Papier war vier Tage vor dem Datum auf der Sterbeurkunde ausgestellt. Er wies darauf und sagte: »Das [260] also ist das berühmte Testament?« Kein Wunder, dass es für so viel Unruhe gesorgt hatte: Nur ein Experte konnte mit diesem Gekritzel etwas anfangen.
»Auf dem dritten steht eine Abschrift, Signore. Drei verschiedene Leute haben sich daran versucht und sind alle ungefähr zu dem gleichen Ergebnis gekommen.«
»Ungefähr?«
»Keine bedeutenden Abweichungen. Behauptet jedenfalls das Begleitschreiben.«
Er nahm das dritte Blatt und las: Marie Reynard, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, hinterließ ihr gesamtes Vermögen - Bankkonten, Fondsdepots, Häuser samt zugehörigen Grundstücken, Wohnungen
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