Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
trifft auch auf viele Parlamentsabgeordnete zu«, witzelte Brunetti, auch wenn ihm schmerzlich bewusst war, wie recht er damit hatte. Aber der Scherz brachte ihn auch auf eine andere Wahrheit: Selbst die schlechtesten Menschen wollten besser scheinen, als sie waren. Wie sonst könnte die Heuchelei ein so schwindelerregendes Ausmaß erreicht haben?
Er dachte an seine Begegnung mit Morandi zurück. Der alte Mann hatte, von Brunettis Anwesenheit überrumpelt, instinktiv reagiert. Kaum aber erkannte er in Brunetti einen Vertreter der Staatsgewalt, der nur seine Pflicht erfüllte - die darin bestand, Signora Sartori zu helfen, wie er annehmen musste -, wurde er ruhig. Brunetti dachte an seinen Vater, der auch so aufbrausend gewesen war: Selbst in seinen cholerischsten Momenten hatte er vor Autoritätspersonen [264] und wenn er einen guten Eindruck machen wollte, nie die Beherrschung verloren. Und er hatte sich immer um den Respekt seiner Frau bemüht und auch sie nur respektvoll behandelt. Wie hartnäckig sich diese alten Umgangsformen doch noch hielten.
Vianello riss ihn aus diesen Betrachtungen. »Vielleicht hast du recht«, sagte er widerstrebend.
»Womit?«
»Dass ihm an der guten Meinung der Leute gelegen war. Du sagtest, er habe sich schützend vor die Frau gestellt?«
»So sah es aus.«
»Weil er verhindern wollte, dass sie mit dir redet, oder weil du sie nicht beunruhigen solltest?«
Darüber musste Brunetti erst einmal nachdenken. »Ich würde sagen, von beidem etwas, aber eher aus dem zweiten Grund.«
»Und warum?«
»Weil er sie liebt«, sagte Brunetti und erinnerte sich daran, wie der alte Mann sie angesehen hatte. »Das läge doch auf der Hand.« Bevor Vianello etwas dazu sagen konnte, fuhr Brunetti fort: »Paola hat mich einmal darauf hingewiesen, wie sehr wir dazu neigen, die Gefühle einfacher Leute geringzuschätzen. Als ob unsere irgendwie besser seien.«
»Und Liebe ist Liebe?«, fragte Vianello.
»Ja, ich glaube schon.« Paola schien davon zutiefst überzeugt, aber Brunetti hatte immer noch Zweifel, auch wenn er dagegen anzukämpfen versuchte. Er hielt das für eines seiner bedenklichsten Vorurteile.
Er wechselte das Thema. »Also, woher kommt das Geld?« [265] Da Vianello ihn fragend ansah, erklärte er: »Das Geld, das auf das Konto eingezahlt wird.«
»Keine Ahnung. Unwahrscheinlich, dass er Drogen verkauft«, sagte Vianello grinsend.
»Aber er ist über achtzig, da muss er irgendetwas verkaufen; als Einbrecher zieht er bestimmt nicht durch die Gegend, und zum Arbeiten ist er auch zu alt«, meinte Brunetti. »Und da Cuccetti und seine Familie tot sind und alles an die Kirche gegangen ist, gibt es auch keinen, den er erpressen könnte.«
Vianello konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Deine erbaulichen Ansichten über die Natur des Menschen erheitern mich jedes Mal.«
Brunetti fragte sich, ob rhetorische Eleganz ansteckend war. Vor zehn Jahren hätte Vianello einen solchen Satz nicht zustande gebracht. Er fand das erfreulich.
»Er verkauft also etwas«, fuhr er fort, als hätte Vianello nichts gesagt. »Und wenn das stimmt, und wenn er nicht mehr Fracht im Hafen klaut, dann könnte es sich um etwas handeln, das sie ihm bei der Unterzeichnung des Testaments gegeben haben, oder als er die Wohnung von ihnen bekommen hat.«
»Oder etwas, das er gestohlen hat«, tat Vianello nun ebenfalls seine Meinung über die Natur des Menschen kund.
Diese Möglichkeit war Brunetti unangenehm. »Er hat sie bei der Arbeit im Krankenhaus kennengelernt, und seither hatte er keinen Ärger mehr mit uns.«
»Oder er ist nur nicht erwischt worden.«
»So beschränkt, wie er ist, wäre er erwischt worden«, beharrte Brunetti. »Denk dran, wie oft er früher verhaftet wurde.«
[266] »Aber er ist immer davongekommen. Vielleicht hatte er etwas in der Hinterhand, womit er drohen konnte.«
»Wenn er wirklich gewalttätig oder gefährlich wäre, würde das in den Akten stehen«, sagte Brunetti. »Das wüssten wir.«
Vianello stimmte nach kurzem Zögern zu. »Also gut, möglich ist es. Die Liebe hat mit den Leuten schon seltsamere Dinge angestellt, als sie vorsichtig zu machen.«
»Oder sie zu bessern«, ergänzte Brunetti.
»Du redest, als ob er der heilige Paulus wäre«, amüsierte sich Vianello. »Er reitet vorbei, um im Krankenhaus einen Röntgenapparat zu stehlen, erblickt Signorina Sartori in ihrem weißen Schwesternkittel, stürzt wie vom Blitz getroffen vom Pferd, und als er sich wieder
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