Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
ein Grinsen verständigt.
»Der Prosecco, den wir normalerweise trinken«, korrigierte er sich. Er trank seinen Champagner aus, nahm die leere Flasche und ging zum Kühlschrank, um eine zweite zu holen. Diesmal entschied er sich für den Prosecco.
»Euer Vater«, erklärte Paola den Kindern, während er die Folie abpulte, »führt euch ein Beispiel für wissenschaftliches Vorgehen vor. Er wird seine Behauptung einem Praxistest unterziehen.«
»Welche?«, fragte Raffi. »Die über den Unterschied zwischen Champagner und Prosecco oder dass ihr ihn täglich trinkt?«
»Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte Brunetti, und gleich darauf gab es einen lauten Knall.
[246] 23
A m nächsten Morgen wachte Brunetti früh auf und ging in die Küche. Als er den Kaffee aufgesetzt hatte, trat er ans hintere Fenster und hoffte, die Berge sehen zu können. Aber da war nur Dunst. Der seltsame Fall der Madame Reynard ging ihm nicht aus dem Kopf. Unmöglich zu ermitteln, falls man sie nicht direkt danach fragen wollte, wie Sartori und Morandi dazu gekommen waren, das Testament zu beglaubigen. Und warum war eine Frau wie Madame Reynard - eine so wohlhabende Frau - nicht in ein privates Pflegeheim, sondern ins Ospedale Civile gegangen?
Das Brodeln des Kaffees lenkte ihn ab. Er schenkte sich eine Tasse ein, nahm Zucker und goss kalte Milch dazu, auch wenn ihm warme lieber gewesen wäre. Dann kehrte er zu seinen Überlegungen zurück. Vier Leute, deren Wege sich in einem Krankenhauszimmer gekreuzt hatten: eine sterbende reiche Frau und der Anwalt, der sie beerben sollte; die beiden Zeugen ihres handschriftlichen Testaments, das jenen zum Erben bestimmte. Wie aus heiterem Himmel waren eine Hilfsschwester und ein vorbestrafter Mann dort aufgetaucht, um ein Testament zu beglaubigen, durch das Millionen ihren Besitzer wechselten. Eine merkwürdige Konstellation. Und wie groß war die Wohnung, die einer der Zeugen kurz darauf käuflich erworben hatte?
Seine Gedanken wanderten zu der Frau, die bei Signora Altavilla gewohnt hatte. Brunetti erinnerte sich mit einigem Unbehagen daran, dass sein erster Verdacht nicht auf diese [247] Frau, sondern auf ihren Liebhaber gefallen war, den Chemielehrer, der Signora Altavilla so mutig vor dem Kuckuck in ihrem Nest gewarnt hatte. Der aus dem Süden.
Er betrachtete das Gemälde an der Küchenwand, eine Darstellung des Canal Grande, wie er vor Jahrhunderten ausgesehen hatte, und versetzte sich in Signora Altavillas Wohnung zurück. Das Bild weckte die Erinnerung an die verwaisten Nägel, die sie an den Wänden der Wohnung bemerkt hatten. Er nahm sein telefonino aus der Jackentasche und wählte Niccolinis Nummer.
Kaum hörte der Arzt Brunettis Namen, sagte er: »Commissario, ich wollte Sie heute noch anrufen.«
»Weswegen, Dottore?«, fragte Brunetti erleichtert, weil sie gleich zur Sache kamen und nicht erst noch Höflichkeitsfloskeln austauschen mussten.
»Es geht um die Wohnung meiner Mutter. Da fehlen einige Gegenstände«, sagte Niccolini eher besorgt als aufgebracht.
»Wie kommen Sie jetzt darauf, Dottore?«
»Ich war gestern dort. Mit einem Freund. Um noch mal nachzusehen. Er ist mitgekommen, um ...« Seine Stimme versagte; beim Gedanken an das, was in der Wohnung zu sehen war, hielt Brunetti es für höflicher, sein Schweigen nicht zu unterbrechen.
»Um mir zu helfen.«
Brunetti verstand das nur zu gut.
»Könnten Sie mir sagen, was fehlt?«, fragte er.
»Drei Zeichnungen«, antwortete der Arzt. »Alle ziemlich klein.«
»Sonst nichts?«
»Nicht, dass ich wüsste. Bis jetzt jedenfalls.«
[248] »Von wo sind die verschwunden?«
»Eine war im Gästezimmer. Und zwei im Flur.«
Brunetti erinnerte sich an den hellen Schatten unter dem Nagel im Gästezimmer, undeutlich auch an die zwei im Flur. Mehr hatte er nicht bemerkt. Falls Gabriela Pavon in letzter Minute beschlossen hatte, die Bilder mitgehen zu lassen, wären die natürlich am leichtesten zu erreichen gewesen. Was für eine Dreistigkeit, das zu tun, während die beiden anderen Frauen nur wenige Meter entfernt im Wohnzimmer saßen!
»Was waren das für Zeichnungen?«
»Eine war von Corot. Die zwei anderen von Salvator Rosa. Klein, aber gute Qualität.«
Der Arzt schwieg lange, und schließlich meinte er zögernd: »Ich dachte, das sollte ich Ihnen sagen. Es könnte etwas zu bedeuten haben.« Brunetti dankte ihm für die Mitteilung und legte auf.
Er blieb noch eine Weile vor dem Bild in der Küche sitzen, trank seinen
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