Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
eigenen Augen sah oder selbst beweisen konnte. Manchmal gelang es Brunetti, dem Doktor Spekulationen zu entlocken, aber einfach war das nicht.
Brunetti wandte seine Aufmerksamkeit von Rizzardi und der Frau zu seinen Füßen ab. Das Zimmer machte einen ordentlichen Eindruck, abgesehen von zwei Sofakissen auf dem Boden und einem in Leder gebundenen Buch, das mit der Vorderseite nach unten daneben lag. Es gab einen Schrank, aber beide Türen waren zu.
Der Fotograf kam herein. »Marillo und Bobbio kümmern sich um die Fingerabdrücke, dann kann ich ja schon mal hier anfangen«, sagte er und ging an Brunetti vorbei zu der Leiche, während er an seiner Kamera herumfingerte.
Brunetti ließ ihn arbeiten. Er hörte Rizzardi hinter sich etwas murmeln, ignorierte ihn aber und ging in den Flur zurück.
In dem größeren Schlafzimmer stand Vianello vor den aufgezogenen Schubladen der Kommode; er trug Latexhandschuhe und untersuchte einige Papiere, die auf der Kommode lagen. Brunetti sah ihm zu, wie er das obere Blatt mit einer Fingerspitze beiseiteschob, das Blatt darunter las, auch dies wegschob und das letzte las.
[31] Als Antwort auf Brunettis Schweigen sagte Vianello: »Das ist ein Brief von einem Mädchen in Indien. ›An Mamma Costanza‹. Muss eine dieser Organisationen sein, über die man ein Kind unterstützen kann.«
»Was steht drin?«, fragte Brunetti.
»Der Brief ist in Englisch«, sagte Vianello und hielt die Papiere hoch. »Mit der Hand geschrieben. Soweit ich das verstehe, dankt sie ihr für ein Geburtstagsgeschenk und erzählt, dass sie es ihrem Vater geben wird, damit er davon Reis für die Frühjahrsaussaat kaufen kann.« Dann fügte er noch hinzu: »Außerdem hat sie ihr Schulzeugnis und ein Foto mitgeschickt.«
Vorsichtig schob Vianello die Papiere wieder zusammen. »Was meinst du, sind solche Wohltätigkeitsorganisationen eigentlich seriös?«, fragte er.
»Das kann ich nur hoffen«, sagte Brunetti. »Wenn nicht, ist lange Zeit viel Geld bei den falschen Stellen angekommen.«
»Machst du da auch mit?«, fragte Vianello.
»Ja.«
»Indien?«
»Ja«, sagte Brunetti, dem das beinahe peinlich war. »Paola kümmert sich darum.«
»Nadia macht das auch«, sagte Vianello hastig. »Aber warum wir eigentlich Geld in Länder wie Indien oder China schicken, verstehe ich nicht. In jeder Zeitung kann man lesen, was für eine starke Wirtschaft die haben und dass sie in zehn Jahren die Welt beherrschen werden. Oder in zwanzig. Wozu müssen wir also ihre Kinder unterstützen?« Und dann sagte er noch: »Mir jedenfalls ist das nicht klar.«
[32] »Wenn man Fazio glauben kann«, brachte Brunetti seinen Freund von der Grenzpolizei ins Spiel, »ist es falsch, ihnen Kleider und Spielzeuge und Elektrogeräte abzukaufen. Hingegen tut es nicht weh, ein paar hundert Euro zu spenden, damit dort ein Kind zur Schule gehen kann.«
Vianello nickte. »Die Kinder dort brauchen trotzdem was zu essen, nehme ich an. Und Bücher.« Er streifte die Handschuhe ab und steckte sie ein.
In diesem Augenblick erschien der Fotograf in der Tür und sagte Brunetti, Rizzardi wolle ihn sprechen. Die Tote lag inzwischen auf dem Rücken, beide Arme dicht am Körper: Als Brunetti sie so sah, konnte er den Eindruck nicht mehr nachvollziehen, den er beim ersten Anblick der Leiche gehabt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund offen, ihre Seele entwichen. Keinerlei Hoffnung, dass in diesem Körper noch eine Seele wohnte. Man könnte darüber diskutieren, wohin sie gegangen war oder ob sie überhaupt je existiert hatte, aber dass hier kein Leben war, stand unwiderruflich fest.
Über ihrem rechten Auge, unmittelbar über der Braue, sah Brunetti eine Platzwunde, das Fleisch geschwollen und verfärbt. Aus der Wunde war eine dunkle Substanz, die an Siegellack erinnerte, in ihre Haare gesickert - offenbar die Quelle für das Blut auf dem Fußboden. Nachdem sie auf den Rücken gedreht worden war, hatte man ihre Strickjacke aufgeknöpft und die gelbe Bluse zur Seite gezogen, so dass im Bereich des linken Schlüsselbeins ein länglicher Fleck erkennbar wurde.
Unbewusst krümmte Brunetti die Finger und hielt die Hände so vor sich hin, als wolle er den Abstand zwischen [33] seinen Daumen messen. Dann erst merkte er, dass Rizzardi ihn beobachtete.
»Dann wären ihre Augen blutunterlaufen«, sagte der Doktor, der die Geste des Commissarios richtig interpretierte.
Brunetti hörte hinter sich einen Stoßseufzer. Es war Vianello, den er nicht
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