Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
zu befürchten, auf der Grassi
womöglich einen zurechnungsfähigen Eindruck gemacht haben
könnte.
Als hätte die
Principessa Trons Gedanken gelesen, sagte sie: «Und damit
wäre der Fall tatsächlich gelöst?» Anstatt dem
Dessert zuzusprechen — frische Erdbeeren mit Mascarpone
— hatte sie sich eine Maria Mancini angezündet.
«Jedenfalls auf
den ersten Blick», sagte Tron.
«Wo ist das
Problem?»
Tron seufzte.
«Die Lösung ist das Problem. Es wirkt alles zu
glatt.»
«Und Grassis
Selbstmord? Die anatomischen Tafeln?»
«Sind keine
Beweise.» Tron schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er:
«Außerdem frage ich mich, was für eine Rolle
Oberst Stumm bei der ganzen Sache spielt.»
«Könnte er
in die Angelegenheit verwickelt sein?»
«Stumm soll als
junger Offizier in Wien eine Prostituierte misshandelt
haben.»
«Sagt
wer?»
«Spaur. Der war
im selben Regiment. Spaur sagt auch, dass er damals immer den
Eindruck hatte, unter Stumms polierter Oberfläche würde
etwas brodeln. Wörtlich.»
«Und was ist
dein Eindruck?»
«Heute hat sich
Stumm sehr zivilisiert und höflich benommen. Aber die
Geschichte, die er uns über seinen inszenierten Auftritt mit
Grassi erzählt hat, war gelogen. Ich bin fest davon
überzeugt, dass er Grassi wirklich umbringen
wollte.»
«Und was folgt
jetzt daraus?»
Tron hob die
Schultern. «Ich weiß es nicht.»
«Hast du mit
Spaur darüber gesprochen?»
«Für
Spaur», sagte Tron verdrossen, «ist Grassis Selbstmord
ein Geständnis, und damit ist die Angelegenheit aus seiner
Sicht erledigt. In unserem Bericht wird stehen, dass es sich bei
Grassi um einen Verrückten gehandelt hat. Um jemanden, der
schuldunfähig ist. Wir hätten es hier also nicht mit
einem Verbrechen, sondern mit einem bizarren Unfall zu
tun.»
«Das hört
sich einleuchtend an.»
«Auf jeden
Fall», sagte Tron, «war der Mord auf der Gondel die Tat
eines Wahnsinnigen.»
«Das wird die
Baronin freuen.»
«Zweifellos. Und
sie wird sich auch über das freuen, was heute im Giomale di
Trieste stand.» «Was
denn?»
«Dass es vor
zwei Tagen einen bestialischen Doppelmord in Graz gegeben
hat.»
Die Principessa musste
lachen. «Also ein guter Tag für die
Spaurs.»
«Spaur war
regelrecht begeistert. Jetzt geht es nur noch um lächerliche
vierzehn Tage, und sie haben gewonnen.»
«In denen noch
viel passieren kann», sagte die Principessa.
«Aber keine drei
Morde. Wir sind hier nicht in London oder in
Paris.»
«Du gibst mir
das Stichwort.» Die Principessa lächelte. Sie nahm einen
Schluck aus ihrer Kaffeetasse und zog an ihrer Maria Mancini.
«Welches
Stichwort?»
«Paris»,
sagte die Principessa. «Ich habe noch jemanden zum Maskenball
eingeladen.» Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.
«Einen jungen Mann. Das Einverständnis der Contessa
vorwegnehmend.»
«Und
wen?»
«Julien
Sorelli.»
Tron brachte es nicht
fertig, seine Überraschung zu verbergen. «Du hast ihn
getroffen?»
«Er war heute
Vormittag im Kontor.»
«Hattest du ihn
erwartet?»
«Julien kam ganz
spontan vorbei. Er hatte in der Nähe zu tun. Immerhin sind wir
Verwandte.»
«Und?»
«Er ist eine
Stunde lang geblieben, und anschließend waren wir im Danieli
essen. Julien hat sich lobend über die Küche
geäußert.»
Im Danieli essen? Tron
räusperte sich nervös. «Was ist dein Eindruck?
Entspricht der Juvenil deinen Erwartungen?» Vielleicht hatte
er ja einen Sprachfehler. Oder Mundgeruch. Oder einen
Klumpfuß.
Was aber nicht der
Fall zu sein schien, denn die Principessa sagte: «Er sieht
besser aus als auf seiner Fotografie.»
«Du fandest ihn
bereits auf der Fotografie äußerst
ansprechend.»
Die Principessa
nickte. «Allerdings. Aber eine Fotografie ist eben nur eine
Fotografie. Da kann man sich leicht täuschen.»
Lächelnd setzte sie hinzu: «Er wird dir
gefallen.»
«Warum bist du
dir da so sicher?»
«Er ist klug,
belesen und hat ein unabhängiges Urteil. Du sagst doch immer,
dass es von solchen Menschen viel zu wenige gibt.»
«Gefällt
er dir?»
«Würde es
dich stören, wenn er mir gefällt?»
Was für eine
Frage! Natürlich würde es ihn stören. Tron
häufte sich eine weitere Portion Mascarpone auf den Teller und
lächelte souverän. «Für wen hältst du
mich? Für einen hysterischen Othello?»
Die Principessa warf
einen versonnenen Blick auf das Deckengemälde ihres
Speisezimmers, auf dem ein paar pummelige Amoretten ein Spruchband
mit den Worten Amor vincit omnia über einen
hellblauen Himmel zogen.
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