Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
besten jemand anders.»
«Und
wer?»
«Er hält
sich momentan im Zimmer von Signor Sorelli auf.» Der Comte de
Chambord wandte sich zur Tür. «Folgen Sie uns,
Commissario.»
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Sie verließen
den Salon mit dem Porträt des erlauchten Vorfahren,
durchquerten das Vestibül und stiegen schweigend zum
Mezzaningeschoss empor. Der Comte schien zu weiteren
Auskünften nicht bereit zu sein, also stellte Tron ihm keine
Fragen. Vor Juliens Tür stand ein Sergeant der kroatischen
Jäger, der beim Anblick des Comtes salutierte und zur Seite
trat. An der angelehnten Tür blieb der Comte de Chambord
stehen, um Tron den Vortritt zu lassen.
Das Zimmer Juliens war
geräumiger, als Tron erwartet hatte. Vor einem der beiden
Fenster, die zum Rio dell'Orso hinausgingen, sah Tron einen
Schreibtisch, an der linken Wand ein Bett und einen Kleiderschrank,
an der rechten Wand einen Sessel und einen ovalen Tisch, auf dem
sich Bücher stapelten. Neben dem Bett stand ein weiterer
Sergeant — und Oberst Stumm von Bordwehr. Offenbar war der
Oberst gerade dabei, seinem Sergeanten etwas zu diktieren, denn der
hielt ein Klemmbrett und einen Stift in der Hand. Als der Oberst
Tron auf der Türschwelle sah, riss er erschrocken das Kinn
hoch. Tron hatte nicht den Eindruck, dass der Oberst erfreut war,
ihn hier zu sehen.
«Sind Sie
zufällig hier, Commissario? Oder haben sich die Neuigkeiten
bereits in der Questura verbreitet?» Der Oberst hatte sich
wieder in der Gewalt. Er lächelte und fügte dann in
geschäftsmäßigem Ton hinzu: «Ich hätte
Sie selbstverständlich noch heute
benachrichtigt.»
«Was ist
passiert? Und wo ist Signor Sorelli?»
«Wir haben ihn
verhaftet», sagte der Oberst knapp.
«Warum?
«Weil Signor
Sorelli offenbar ein zusätzliches Geheimnis
hatte.»
Wie bitte? Ein
zusätzliches Geheimnis? Tron verstand kein Wort von dem,
was der Oberst sagte. «Ich furchte, ich kann Ihnen nicht
folgen.»
«Die
Geschichte», sagte der Oberst, «ist auch ein wenig
kompliziert, Commissario.» Er zündete sich eine
Zigarette an und ließ das Streichholz achtlos auf den Boden
fallen. «Was wissen Sie über Sorelli?»
Gute Frage, dachte
Tron. Was wusste er wirklich über den Neffen? Außer,
dass er auf ihn eifersüchtig war? Aber auch da war er sich
nicht sicher. «Sorelli ist in Venedig geboren, in Rom
aufgewachsen und hat lange Zeit in Paris gelebt.»
«Hat er Ihnen
gegenüber erwähnt, was er in Paris getrieben
hat?»
«Medizin
studiert.»
Der Oberst
lächelte dünn. «Nicht nur. Er hat auch
Freundschaften in Paris geschlossen. Sagt Ihnen der Name Alphonse
Daudet etwas?»
Tron hob
überrascht die Augenbrauen. «Sie meinen den
Schriftsteller?»
«Sorelli und
Daudet», sagte der Oberst, «hatten eine lebhafte
Korrespondenz, für die wir uns aus guten Gründen
interessiert haben. Monsieur Daudet ist nämlich der
Privatsekretär des Herzogs von Morny. Und dieser ist
bekanntlich ...»
«Der Bruder des
französischen Kaisers», ergänzte Tron.
«Den der
Kaiser», fuhr der Oberst fort, «gerne für heikle
Operationen einspannt. Und Einzelheiten über die
Aktivitäten Seiner Hoheit zu erfahren dürfte für
Napoleon nicht uninteressant sein.»
Tron stellte fest,
dass er immer noch Schwierigkeiten hatte, dem Gespräch zu
folgen. «Sorelli hat diese Einzelheiten an Monsieur
übermittelt?»
«Die
Korrespondenz ist ein wenig blumig, aber wir haben gelernt,
zwischen den Zeilen zu lesen.»
«Wollen Sie
behaupten, dass Signor Sorelli für die Franzosen spioniert
hat?»
Der Oberst nickte.
Dann sagte er mit beiläufiger Stimme: «Und nebenbei hat
er offenbar noch Zeit gefunden, seine Operationen vorzunehmen.»
Einen Augenblick lang
verstand Tron nicht, was gemeint war. Dann traf ihn das Wort Operationen wie ein stumpfer,
schwerer Gegenstand. Er öffnete den Mund, war aber
unfähig zu sprechen.
«Da sind die
Beweise, Commissario.» Der Oberst zeigte auf Juliens
Schreibtisch.
Als Tron sah, was dort
lag, hatte er plötzlich das unangenehme Gefühl, sein
Verstand löse sich in Einzelteile auf, die in kleinen Flocken
zur Decke schwebten. Auf der Tischplatte lagen, gefällig
angeordnet wie in der Auslage eines Schaufensters, zwei
Rasiermesser, daneben zwei Lederriemen, ein Stapel Briefe und zwei
Zeitungsausschnitte aus der Gazzetta di Venezia. Eine rote und eine
schwarze Maske lagen ebenfalls auf dem Tisch.
«Das haben wir
in einer Tasche auf dem Boden des Kleiderschranks gefunden»,
sagte der Oberst.
Trons Herz pochte so
laut, als hätte er
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