Copyworld: Roman (German Edition)
trippelt, würdigt er keines Blickes.
So hält sich der große Mensch an
das
Werdende, nicht an das Vergehende
Laudse (Daudedsching, 38. Kap.)
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Kapitel 2
Villafleur
Allmählich verliert die
Dunkelheit der sterbenden Nacht an Kraft, und Hyazinth atmet auf, als die
Schwärze immer durchsichtiger wird, in der Glut des aufsteigenden Morgens
schmilzt, verdunstet, verdorrt. Endlich gewinnt er die Herrschaft über seine
Gefühle zurück. Mit dem Schwinden der Finsternis geht auch die Furcht, die ihn
immer befällt, wenn die Lichter der Zentralstadt verlöschen, die Farbe des
Todes alles verschlingt. Wie ein Sturz in unermeßliche Tiefe ist es jedesmal;
die Angst überschwemmt ihn mit rätselhaften Bildern, und Hyazinth mußte schon
oft mit aller Macht den Wunsch zurückdrängen, wenigstens eine winzige
Leuchtperle zu entzünden.
Nachts laufen die Programme von Copyworld.
Milliarden von Welten erwachen zu turbulentem Leben. Strudel von Leidenschaften
und Ströme von Begierden brechen aus der Stille, kleine Freuden wachsen in das
Morgen und gewaltige Schöpfungen bäumen sich in die Zukunft. Vielleicht
empfindet Hyazinth gerade deshalb die ungewöhnliche Leere seiner Nächte so
schmerzhaft, dieses Nichts, das er nur mit seinen Träumen und Sehnsüchten zu
füllen vermag, seit Jade nicht mehr zu ihm kommt. Außerdem hat er entsetzlichen
Blödsinn geträumt: Ständig kreiste ein unheimlicher Schatten über ihm, während
er in einem fürchterlich kalten, weißen Pulver hockte und vor Angst noch mehr
als vor Kälte schlotterte... Quatsch. Hyazinth streckt sich.
Eigentlich dürfte er noch gar
nicht wissen, was es mit diesem Copyworld auf sich hat. Weil er die siebente
Weihe ein halbes Jahr vor der Zeit erhalten hatte, belohnte Masterteacher Opal,
der Erste Lehrer, seinen Lieblingsschüler mit der Erklärung dieses
geheimnisvollen Wortes. Oder war es nicht vielmehr eine weitere Prüfung statt
Lohn? Die schwerste und wichtigste womöglich? Ganz sicher ist sich Hyazinth
nicht, denn Opal war sehr verärgert, als die Fragen seines Schülers zu deutlich
gegen das zweite Generalgebot verstießen.
Du sollst alle Zweifel an der
Lehre aus dir reißen, denn sie verwirren das Denken! Immer ungeduldiger hatte
Opal das zweite Generalgebot gepredigt und damit erst Hyazinth endgültig
verwirrt. Denn es war doch nicht Zweifel, was ihm die Fragen eingab, sondern
diese wuchsen ganz von selbst in ihm, so wie aus den Keimperlen Airspider,
Kontaktspiralen oder ganze Wohnblasen sprießen, wenn man sie mit dem
Fingernagel zerquetscht.
Hyazinth tastet nach dem Fußende
seines Lagers und streichelt Federchens Hinterleib. “Ist gut, Federchen, du
kannst aufhören – ich stehe auf.” Federchens Hinterleib ist so groß wie ein
Kinderkopf und fühlt sich an wie Samt. Wenn sie die ganze Nacht den
heilkräftigen Fadenschaum aus ihrer Spinndrüse gepreßt hat, ist sie so leicht,
daß sie wie eine schillernde Seifenblase umherschwebt, sobald sie ihren
Atemkropf mit Luft füllt.
Kein Wesen auf Erden bedeutet
Hyazinth mehr als seine fleißige Fadenschaumspinne. Jede Nacht hüllt sie ihn in
einen hauchzarten Kokon aus Fadenschaum, unermüdlich und mit einer Emsigkeit,
als wäre es das Wichtigste auf der Welt, den Menschen Hyazinth wenigstens
nachts die lästigen Wachsschuppen vergessen zu lassen, die vornehmlich an den
Gelenken die Haut überwuchern, zwischen denen sich der Schwefel aus der Luft
niederschlägt und einen schrecklichen Juckreiz erzeugt. Der Fadenschaum bewirkt
ein beinahe völliges Verschwinden der Schuppen, aber am Morgen füllen sich die
schlaffen Hautauswüchse wieder mit Flüssigkeit und werden prall und hart.
Hyazinth streichelt Federchen
dankbar, doch seine Gedanken kehren wieder zu dem Gespräch mit dem
Masterteacher zurück.
Nachts laufen die Programme,
deshalb erlöschen die Lichter in Villafleur; alle noch auf Erden verfügbare
Energie braucht das Projekt Copyworld.
In der darauffolgenden Nacht
wälzte sich Hyazinth unruhig hin und her, fand keinen Schlaf. Immerzu mußte er
daran denken, wie sich Milliarden von Sehnsüchten erfüllten und Millionen von
Schicksalen vollendeten in diesen acht Stunden der Dunkelheit, und er begriff
auf einmal, daß er einem Omegaschläfer oder Dig womöglich einen Tag Lebenszeit
in seiner
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