Copyworld: Roman (German Edition)
an.
“Glotz nicht so blöd!”
Hyazinth reißt die Nadelpistole
aus dem Halfter, packt sie beim Lauf und führt einen wütenden Hieb in
Federchens Richtung. Dunkel wird ihm bewußt, daß sein Zorn sich gegen das
unschuldigste aller Wesen wendet, aber in ihm hat sich ein Überdruck gestaut,
der unbedingt ein Ventil benötigt.
Die Waffe dürfte er eigentlich
längst nicht mehr tragen. Nach seiner Wahl zum Ersten Administrator hatte
Beryll sofort die Entwaffnung der Antisteinistischen Revisionsfront angeordnet.
Tremakuts Kämpfer hatten keinerlei Widerstand geleistet, nur Hyazinth hatte die
Waffe versteckt, mit der er seinen Vater erschossen hatte. Er könnte selbst
nicht genau sagen, aus welchem Grunde. Ein unklares Gefühl hatte ihn bewogen,
so zu handeln, eine innere Stimme. Und verdichtet hatte sich dieses Gefühl, als
er Opal gefunden hatte.
Der väterliche Freund war seine
letzte Hoffnung gewesen. Die Mutter begann immer nur zu weinen, wenn er von ihr
wissen wollte, ob denn gar nichts mehr wahr sei von dem, was er auf der
Märtyrerschule gelernt hatte, ob die beryllischen Freiheitsligisten, die doch
größtenteils selbst Märtyrer gewesen waren, recht hätten mit ihren
Anschuldigungen, alles sei eine gigantische Lüge.
Opal lag hingestreckt auf dem
Boden seines Zimmers, Bücher, Schriftrollen und -tafeln waren aus den Regalen
gerissen. Neben dem alten Lehrer fand er unzählige Röhrchen mit Kristallen. Auf
den ersten Blick erkannte Hyazinth Zyanverbindungen und Arsenide.
Mit einem Aufschrei stürzte er zu
Opal, kniete neben ihm nieder und schüttelte ihn. Als er sich endlich besann
und aufspringen wollte, um Hilfe zu holen, schlossen sich die Finger des Alten
mit aller Macht um sein Handgelenk.
“Bleib, mein Junge”, röchelte
Opal. “Hilf mir über diesen letzten Augenblick eines vergeudeten Lebens hinweg,
bitte.”
“Masterteacher, du darfst nicht
sterben!” schrie Hyazinth. “Was bleibt mir, wenn du nicht mehr da bist...”
“Die Zukunft bleibt dir,
Hyazinth, die Zukunft…”
“Aber wie soll ich mich in ihr
zurechtfinden, wenn nichts mehr stimmt, wie soll ich unterscheiden zwischen
wahr und unwahr, zwischen gut und böse, ohne Gewißheit?”
“Die Wahrheit erkennst du in den
Taten der Menschen, Hyazinth. Ihr Name ist belanglos, nenne sie Gott oder
Copyworld , nenne sie Rot, Grün oder Blau. Entscheidend ist einzig, welche
Taten im Namen dieser Wahrheit vollbracht werden. Es gibt so viele Wahrheiten,
so viele wie Menschen…”
Opal stöhnte ein letztes Mal,
sein Körper bäumte sich in einem gräßlichen Krampf auf und streckte sich.
Hyazinth kniete Stunden neben dem erkaltenden Leichnam, und ihm war, als hätte
der Schuß, mit dem er seinen Vater mordete, auch den Masterteacher, seinen
alten Freund und Ratgeber niedergestreckt.
Alles kam schließlich so, wie
Korund Stein es prophezeit hatte: Die Menschen drängelten sich vor den wie
Pilze aus dem Boden schießenden Omegahallen und jagten alle Mahner und Warner
zum Teufel. Ihnen war es egal, daß sie für den Genuß trügerischer
Glückseligkeit einen hohen Preis zu zahlen hatten. Beryll hatte die Karten
offen auf den Tisch gelegt und erklärt, Copyworld können nur dann funktionieren, wenn das
System der Gesundheitswache erweitert würde und wenn die Omegaschläfer neun
Zehntel ihrer Gehirnkapazität an das Projekt verpachten.
Lieber zu einem Zehntel totale
Freiheit genießen als zu zehn Zehnteln versklavt zu sein. So hatte er es in einen
Satz gefaßt. Kaum einer durchschaute die verlogene Demagogie dieser Devise.
Kraftlos erhebt sich Hyazinth aus
dem Wüstensand. Er löst Federchens Halsband und sagt: “Hau ab! Du bist frei.”
Die Fadenschaumspinne umflattert ihn ein Weilchen unschlüssig, doch als er
ärgerlich mit den Händen wedelt, schwebt sie wie eine schillernde Seifenblase
davon.
Hyazinth schaut ihr hinterher,
und in seiner Brust zieht sich etwas schmerzhaft zusammen.
Sie läßt mich wirklich allein,
denkt er betroffen. Sie fliegt einfach davon. Dieses undankbare Vieh! Noch
einmal wallt zügellose Wut in ihm auf. Er hebt die Nadelpistole und feuert dem
Tier eine Serie genau gezielter Schüsse hinterher. Ein schrilles Kreischen
übertönt für Zehntelsekunden das Klagelied Gottes, als die Nadelwolken
Federchens samtigen Leib zerfetzen.
“Nein, das ist nicht meine
Wirklichkeit”, keucht Hyazinth, dem Wahnsinn nahe. “Sie haben mich in eine
Schopenhauerwelt gesperrt, es gibt mich längst nicht mehr…”
Er
Weitere Kostenlose Bücher