Copyworld: Roman (German Edition)
und
Zufriedenheit führen soll.
Dann sieht er Villafleur - die
Stadt des Martyriums, den Tempel des letzten großen Opfers, das Menschen
abverlangt wird - in einer Glut erstrahlen, die den Anschein flüssiger Bronze
erweckt und glauben läßt, die Stadt quelle just in diesem Augenblick
magmagleich aus dem Boden. Im morgenroten Dämmerlicht sind die langen schwarzen
Schatten wie flatternde Flaggen einer düsteren, dem Lichte weichenden Macht –
mit steigender Sonne aber schrumpfen sie zu Inseln der Nacht und kleben
schließlich wie eingebrannter Zunder an den Wänden von Wohnblasen und Turmbauten.
Da hallt die Stimme des Ersten
Exarchen - Statthalter der Lehre, Seher, Schöpfer und Bewahrer - durch
Villafleur, ergießt sich einer gewaltigen Woge gleich über Hyazinth, der mit
angehaltenem Atem lauscht. Korund Stein spricht das Morgenwort.
“Also sagte Kong Qiu: Zu
Lebzeiten deines Vaters folge seinem Willen; nach dem Tode des Vaters
orientiere dich an seinen Taten.”
Hyazinth läßt den Satz in sich
nachschwingen, vertieft sich in den Sinn des Spruches. Aber so ganz kann er
sich nicht konzentrieren. Seit einiger Zeit mischt sich leises Unbehagen in das
Gefühl von Erhabenheit, das Korund Steins Verkündigungen für gewöhnlich in ihm
beben und schwingen lassen. Und er glaubt, die Quelle dieses Unbehagens erkannt
zu haben: Es ist das Pathos, mit dem der Erste Exarch selbst Binsenweisheiten
in den Mantel begnadeter Erkenntnis hüllt. Was heißt es denn im Klartext, was
der Erste Exarch mit diesen Worten verlangte? Nichts weiter, als: Halte die
Klappe und pariere! Und denke nicht, du könntest aus der Reihe tanzen, wenn
meine Zehen irgendwann höher als die Nase liegen!
Doch andererseits könnte Hyazinth
mindestens ein Dutzend Textstellen aus den Lun-Yu zitieren, die den Gedanken
des heutigen Morgenworts kommentieren, weiterführen, variieren oder
differenzieren, und selbst Masterteacher Opal Stein hat manches Mal verwirrt
den Kopf geschüttelt, wenn sein Lieblingsschüler so kühne Schlüsse aus den
Lehren Kong-Qius zog, daß selbst der Zweitälteste aus der Familie Stein ihnen
nur mit Mühe zu folgen vermochte.
Aber heute sind keine waghalsigen
Schlußfolgerungen vonnöten, um die Absicht des Ersten Exarchen zu erkennen – er
forderte auf, den Tag zum Nachdenken über das Dritte Generalgebot zu nutzen: Du
sollst die Älteren achten und ihnen gehorchen, denn sie besitzen die Weisheit
und Wahrheit der Lehre.
Hyazinth lächelt hochmütig. Nicht
selten mußte er feststellen, daß bei weitem nicht jeder der Älteren den Sinn
der Worte versteht, die täglich er im Munde führt.
Sie lernen sie auswendig wie
Lieder, denkt er abfällig, und sie berauschen sich an ihnen auch, als sei es
nur Gesang.
Hyazinth streckt sich und lauscht
der dem Morgenwort folgenden Meldung.
“Seit einer Stunde ist
Intrax, Oberstadt der baltischen Region,
vollständig digitalisiert. Totalabschaltung ist erfolgt. Frohe Umkehr!”
Die Nachricht weckt ihn endgültig
auf. Achtzehn Millionen Menschen digitalisiert! Ein großer Schritt nach vorn.
All die Energie, die dieser Moloch Intrax verschlang, kommt nun Copyworld
zugute.
“Frohe Umkehr!” flüstert er ergriffen den Gruß
der Märtyrer.
Auch wenn sie nicht jedes Wort
der Lehre richtig zu deuten wissen, berichtigt er sich voller Demut, während er
behende in das Mykorrhizatrikot schlüpft, so handeln sie doch aber danach,
gewissenhaft und erfolgreich.
Hinter Hyazinth ächzt es leise,
und dann hört er ein müdes Schlurfen und Schurren. Er dreht sich nicht um. Wozu
auch. Wölkchen rollt sich zusammen und
kriecht in ihr Gelatinebecken, wie jeden Morgen. Am Abend dann sind die vom
Schlaf zerdrückten Daunen ihres Bauchfells wieder leicht und flauschig.
Wölkchen bedeutet ihm fast ebensoviel wie Federchen. Nur ist die riesige
Wollbauchechse manchmal etwas mürrisch und schnauft nachts beleidigt, wenn
Hyazinth sich schlaflos umherwälzt und zwischen ihre Hautlappen wühlt, um eine
bequeme Lage zu finden.
Als er Jade das erste Mal mit in
seine Wohnblase nahm, da war Wölkchen besonders unausstehlich. Sie plusterte
sich auf, so daß Hyazinth und Jade vom Lager rollten. Aber wenn die
Wollbauchechse gut gelaunt ist, schläft es sich auf ihrem Bauch wie auf
sprudelnden Luftblasen, dann zieht sie sich zu einer flachen Scheibe von drei
Metern Durchmesser auseinander, die sich jeder Körperbewegung anschmiegt, und
die sechs Gliedmaßen sehen dann aus wie die geschwungenen Beine
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