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reines Kunstprodukt seien – dort draußen gebe es nämlich keine realistischen Farben. Die farbliche Darstellung auf den Bildschirmen diene nur dazu, die Bilder für den Betrachter, der schnelle Entscheidungen fällen müsse, unmittelbar verständlich zu machen. Außerdem sei so etwas leicht zu korrigieren. All das war natürlich offenkundig und nichts, worüber man sich hätte streiten müssen. Aber wenn man hier im mitternachtsdunklen Russland saß und betrunken war, dann ging es in einem unnötigen Streit nicht um Wissenschaft und gesunden Menschenverstand.
Die Angst, die mit einem Kater einherging, war natürlich nichts Neues für ihn. In seinen ersten Jahren in Cambridge hatte er in diesem Punkt bis heute gültige Erfahrungen gemacht. Aber an diesem Morgen war es ungewöhnlich schlimm, und der wissenschaftliche Durchbruch vom Vortag war nur einer von vielen Gründen. Dass er ein anglijskij gospodin war, konnte er nicht wegwischen. Aber er war auch ein Palästinenser, sogar mehr Palästinenser als Engländer, vor allem seit 9/11.
Gott zu suchen, war richtig. Es war ebenfalls richtig, sich selbst und seine Landsleute zu verteidigen, denen das Glück weniger hold war. Und wegen der Aktion mit Iwan und Boris brauchte er sich wahrlich nicht zu schämen. Im Gegenteil, das Endergebnis könnte zu einer der größten Niederlagen, nein, der allergrößten Niederlage der feindlichen westlichen Welt führen. All das war kein Grund, diese Angst zu empfinden.
Um Gottes willen, wie naiv er gewesen war! Und wie leicht an der Nase herumzuführen. Objektiv betrachtet war es sicherlich gut. Es war ausgezeichnet, dass er nun hier war. Aber es war ja nicht sein Verdienst, es war nicht seine Absicht gewesen.
Erst vor wenigen Monaten hatten er und Marwan und Marwans Kollege aus der Animationsfirma in einer Art fortgeschrittenem Studienkreis für, wenn man so wollte, eifrige und intellektuell gut ausgerüstete Anfänger im Islam gesessen und die Antwort auf die Frage gesucht, wie die Berufung denn aussehen würde, wenn und falls sie kam.
Abu Ghassan war ein fantastischer Lehrer gewesen, daran bestand kein Zweifel. Er war theologisch bewandert, aber kein Dogmatiker. Er predigte auf sehr überzeugende Weise Toleranz als Kern des Islam, ohne einen Fingerbreit abzuweichen oder eine einzige Sekunde zu zögern, wenn es darum ging, mit Gottes Hilfe einen gerechten Kampf gegen die israelischen Okkupanten und die satanische Weltmacht unter George W. Bush zu führen, die Israels Überlegenheit finanziell und mit Hilfe von Waffen stützte.
Abu Ghassan initiierte anhand der Apache-Helikopter eine Diskussion, in der es eher um Technologie und politische Psychologie ging als um Theologie.
Das Beispiel war simpel. Ein Teenager, Junge oder Mädchen, wurde von der Hamas mit einem dicken Gürtel ausgestattet, der ihn in eine lebende Bombe verwandelte. Der Sprengstoff war mit Nägeln gespickt, die nicht nur den Märtyrer zerreißen, sondern auch so viele Israelis wie möglich töten und verletzen würden.
Angenommen, die Aktion glückt insofern, als neun Menschen sterben, nämlich der Selbstmordattentäter, ein Tourist aus Brasilien, zwei irische Friedensaktivisten, drei israelische Kinder und deren Mutter und ein Soldat auf dem Weg in den Heimaturlaub.
Vierzig Minuten später starten zwei Apache-Helikopter und feuern über Gaza drei Hellfire-Raketen ab. Sechsundzwanzig Personen sterben sofort. Weitere fünfzehn sterben in den Rettungswagen und am folgenden Tag im Krankenhaus.
Die erste Aktion gelte als Terrorismus und bekomme große Medienaufmerksamkeit. Die zweite Aktion werde als Notwehr, Repressalie öder Ähnliches betrachtet, aber nicht als Terrorismus, sagte Abu Ghassan.
Was man mit einfachen Waffen mache, sei immer Terrorismus, was man mit hoch entwickelten Waffen mache, sei etwas ganz anderes, vor allem, wenn man eine blaue Uniform trage.
Was solle der Rechtgläubige nun zu Gott sagen?
Dass die Welt ungerecht sei? Natürlich, würde Gott sagen, das sei sie.
Dass unsere Unterdrücker uns töten und dafür Beifall in den Medien und aus London und Washington Unterstützung bekämen, während uns Hass und Abscheu entgegenschlage, wenn wir uns verteidigen? Natürlich, sage Gott, so sei es.
Sei es nicht doch eine gute Tat, dass dieser junge Märtyrer sein Leben im Kampf gegen die Übermacht geopfert habe?
Es sei eine mutige Tat, würde Gott sagen.
Aber mehr sage Er nicht.
Und nun saßen sie wieder da und gingen das Ganze
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