Cora - MyLady 329 - Barbour, Anne - Die geheimnisvolle Schöne
aufsuchen wollte, um die Bekanntschaft von Sir Henry und dessen Verwandten zu machen. Gewiss, die nächtliche Anwesenheit eines schlanken Fremden, der möglicherweise oder sogar wahrscheinlich eine Frau war, auf seinem Grundstück stellte kein Problem von welterschütternden Ausmaßen dar, aber die für den Aufenthalt in der Wildnis von Cambridgeshire voraussehbare Langeweile konnte durch den Versuch, das Rätsel zu lösen, gemindert werden. Die Anwesenheit einer jungen Frau, die sich offenbar gesellschaftlichen Konventionen nicht unterwarf, garantierte beinahe, dass es ein faszinierendes Geheimnis zu entdecken gab.
Nicht weit von Wildehaven entfernt richtete Miss Gillian Tate sich zur Nacht her. Der Knoten, den sie so kunstvoll geschlungen hatte, um die Mähne braunen Haars unter dem unhandlichen Hut unterzubringen, hatte sich gelöst.
In der letzten halben Stunde hatte ihr das Haar unter der Hutkrempe hervorgehangen. Der Grund für das Malheur wurde sogleich offenkundig. Verdammt! Sie hatte einen ihrer Lieblingshaarkämme verloren. Sie benutzte ihn zwar nicht oft, da er sich nur für Abendfrisuren eignete, doch er war hart und praktisch und eignete sich gut dafür, bei ihrer unerlaubten Betätigung das Haar festzustecken.
Sie merkte, dass ihre Hände immer noch leicht zitterten.
Zum Teufel, wer war ihr auf der Spur gewesen? Nein, nein!
Bestimmt war es nur ein Zufall gewesen, dass ein anderer Reiter sich auf demselben Weg wie sie befunden hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Mann, von dem sie gesehen worden war, versucht hatte, sie zu verfolgen. Sie hatte sich jedoch erfolgreich seiner Sicht entzogen. Hatte er sie erkannt? Du lieber Gott! Falls auch nur jemand den Verdacht schöpfte, dass sie mitternächtliche Ritte unternahm, war ihr Ruf ruiniert, ganz zu schweigen von dem ihres Onkels. Aber nein! Der Reiter konnte unmöglich bemerkt haben, dass sie kein Mann war, ganz zu schweigen davon, dass er womöglich ihr Gesicht erkannt hätte. Sie jedenfalls hatte seins nicht erkennen können.
Wer mochte es gewesen sein? Das Personal von Wildehaven bestand aus Mr. Moresby und seiner Frau und Mr.
Standish, dem Gärtner. Mr. Standish war mindestens siebzig Jahre alt. Gillian hatte jedoch den Eindruck gewonnen, dass der Verfolger ein hoch gewachsener, kräftiger Mann gewesen sein musste, der, wenn er auch nicht mehr jung war, dennoch eine stattliche Figur abgegeben hatte.
Sie flocht das Haar zu einem Zopf und ging zu Bett. Am nächsten Vormittag würde sie ein weiteres Mal mit Onkel Henry darüber reden müssen, wie unklug seine augenblicklichen Aktivitäten waren.
In Gedanken befasste er sich ständig mit dem elenden Tagebuch. Du lieber Himmel! Sie wünschte sich, der Ärmste möge nie von Samuel Pepys gehört haben.
Ehe sie die Augen schloss, schickte sie ein letztes Stoßgebet zum Himmel und hoffte, sie möge dem hoch gewachsenen Reiter nicht noch einmal begegnen. Ihr Ruf und der der beiden betagten Menschen, für die sie die Verantwortung trug, stand auf dem Spiel.
2. KAPITEL
In den wenigen Augenblicken, die es bedurfte, um Zeus zu satteln, zeigte Ephraim Giddings, der Stallmeister, Seiner Lordschaft am nächsten Morgen stolz sein Reich. Christopher fand den ersten Eindruck, Wildehaven werde ausgezeichnet verwaltet, beim Anblick der Stallungen und der Remise bestätigt.
Sobald er auf das Pferd gestiegen und Giddings grüßend zugewinkt hatte, ritt Christopher in raschem Trab vom Stallplatz. Seines Vorsatzes eingedenk, lenkte er Zeus nach Westen und gelangte schließlich zu dem ansehnlichen Backsteinhaus, dessen rosiges Rot den ihm gegebenen Namen erklärte. Alles machte einen höchst adretten Eindruck.
Für einen Höflichkeitsbesuch war es viel zu früh. Also würde er am Spätnachmittag wieder herkommen und sich Sir Henry Folsome sowie dessen Schwester vorstellen, desgleichen der Person, die sich vielleicht als die geheimnisvolle Frau herausstellte.
Er ritt am Cottage vorbei und schlug einen Weg ein, der ihn noch weiter vom Herrenhaus fortführte. Einen Moment später erregte ein auf ihn zupreschendes reiterloses Pferd seine Aufmerksamkeit. Es war ein Apfelschimmel, ein selten großer Wallach mit langem Schweif, der noch das Zaumzeug trug, aber keinen Sattel.
Angesichts der Geschwindigkeit, die das Pferd hatte, wurde Christopher klar, dass es unmöglich war, es einzufangen. Das Tier würde jedoch vermutlich irgendwann zu seinem Stall zurückkehren. Er drehte sich im Sattel um und sah das Pferd in
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