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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Sondertag geschaffen. Einen Festtag der Heuschrecken.
          Langsam trauten sie sich wieder aus den Böschungen, flüsterten wieder. Ich beschleunigte den Schritt, lief ein bisschen, rannte schließlich trotz des Rucksacks, in der Hoffnung, ihnen zu entkommen. Aber sie waren zu schnell.
          Völlig außer Atem schmiss ich mich auf das Feld neben der Straße. Matsch spritzte in mein Gesicht, der Boden darunter war noch gefroren. Meine Knie schmerzten vom Aufprall, ich schrie, weinte: »Ich weiß doch, wie verdorben ich bin. Gebt endlich Ruhe.«
          Stille.
          Plötzlich kein Laut mehr, kein Zweifel. Ich stützte mich auf, setzte mich in das gefrorene von leichtem Matsch überzogene Feld, breitete den Rucksack wie einen Tisch vor mir aus, schnitt Brot und Schinken, und genoss die Stille, während ich aß. Keine Heuschrecken.
          »Es sind deine Heuschrecken, deine Grillen.«
          Der Wolpertinger war nirgends zu sehen, aber die Stimme gehörte unverkennbar ihm.
          »Musst du in die Stille platzen?« Ich vergaß zu kauen, blickte mich um, sah über das Feld, auf dem ich saß, die Straße entlang.
          »Ich bin ja schon still.«
          Die Worte hallten in mir nach. ›Es sind deine Heuschrecken, deine Grillen.‹ Sie sagten mir nichts, klangen wie zusätzliche Vorwürfe, wie deren Ergänzung. Wenn ich über den Boden schaute, war mir manchmal, als klammerten sich die Heuschrecken an den Halmen fest und hielten nur die Flügel still, bereit, sofort wieder mit dem Konzert anzufangen, wenn sie es für richtig hielten. Doch mit dem Brot und dem Schinken verleibte ich mir einen Schutz ein, einen inneren Panzer, der mich immun gegen die Botschaften machte.
          ›Ich bin kein Lügner‹, antwortete ich der längst verklungenen Kakofonie. ›Wenn ich mich anpassen würde, wäre ich ein Lügner. Wenn ich ein Mädchen nehmen würde, wäre ich ein Lügner, dann wäre ich verdorben, denn ich würde es nicht ehrlich meinen. Wenn ich liebe, lüge ich nicht. Liebe ist nicht verdorben.‹
          Die Heuschrecken blieben stumm, warteten um mich herum. Reglos harrten sie aus und sahen aus, also warteten sie. Worauf?
          »Ich halte es mit mir aus!«, rief ich so laut ich konnte. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen.« Noch immer antworteten die Heuschrecken nicht. Auch der Wolpertinger blieb still. Nur der Wind strich leise über das Feld. Die Sonne schien in mein Gesicht, als wollte sie mir Frieden geben uns übermannte mich mit Müdigkeit. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen.
          Das war der Zeitpunkt, auf den die Grillen gewartet hatten. Sofort schlugen sie ihre Flügel wieder aneinander oder strichen mit den Beinen wie mit einem Geigenbogen darüber. Ich riss die Augen wieder auf. »Ihr könnt mich nicht fertigmachen.«
          ›Das erledigst du schon selbst mit deiner Ehrlichkeit‹, zirpte es.
          Ich packte Brot, Schinken und Messer zurück in den Rucksack und brach wieder auf. Die Stille war zerstört. Die Heuschrecken begleiteten mich. Sie wisperten und flüsterten, bis mir abends die Füße wehtaten und ich jeden Schritt spürte, wie einen Hammerschlag, der vom Boden aus durch meinen Körper bis in den Kopf vordrang. Unter meinen Schuhen knirschte es, die Sätze der Heuschrecken wurden unterbrochen.
          ›Töte uns n…‹
          ›Für jed…‹
          ›…te Heuschre…‹
          ›… stehen taus…‹
          ›neue.‹
          Ein Meer lag zu meinen Füßen, zerplatzte unter meinen Sohlen. Die Straße war grün und braun.
          Mit jedem Schritt zertrat ich Heuschrecken, unterbrach deren Sätze, die von anderen übernommen wurden. Es fehlten immer nur Bruchstücke, aber der Sinn war zu verstehen. Er focht mich nicht an. Die Kruste des Brots und der Fettrand des Schinkens wirkten immer noch wie ein Panzer. Ich hörte die Worte, aber floh nicht vor ihnen. Sie waren gelogen. Es waren meine Heuschrecken, meine Grillen.
          Auf dem Boden vor mir erhöhten sie die Anstrengungen, vermehrten sich und verbargen meinen Weg. Wo war die Straße? Unwillkürlich hob ich Füße höher, als stapfte ich durch Pfützen.
          
          Mit Heinrich hatte ich das in der Kinderverschickung getan. Bei Regen hatten wir unsere Gummistiefel angezogen. Sie waren so hoch gewesen, dass sie über die Beine der Knickerbocker reichten. Wir waren, so schnell es die Stiefel zugelassen hatten, zum

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