Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
»Weißt du, wo meine Kästchen sind?«
»Ja.«
Ich sollte meine Gedanken in Zaum halten. Geht das überhaupt? Kann man die eigenen Gedanken unterdrücken, sie kontrollieren, sie beeinflussen und befehligen? Kann man verhindern zu denken? Ich wollte doch eine ganz andere Frage stellen.
»Nur eine Frage«, sagt Darius lachend, steht auf, geht um den Tisch und setzt sich auf meinen Schoß. »Ich bin unfair, ich weiß.«
»Du schummelst.« Ich kann es zulassen, ihn auf meinem Schoß aushalten, ohne einen Ständer oder Atemnot zu bekommen, kann die vertrauensvolle Geste genießen. Aber ich kann die Fragen nicht zurückdrängen aus meinen Gedanken, auch wenn ich sie nicht ausspreche. »Wo bist du damals gewesen? Warum hast du dich davon geschlichen? Was ist geschehen?« Und ich kann das Gefühl der Trauer nicht unterdrücken, das mich in diesem Moment überfällt wie ein Gewitter ohne Wolken, die es ankündigen, ohne Sturm, der zuvor aufbraust. Man nennt es Freudentränen. Darius, der lange Vermisste sitzt auf meinem Schoß, scherzt mit mir, streichelt mich, liebt mich. Die Bezeichnung ist irreführend. Man weint in der Freude, weil einem bewusst wird, was so lange fehlte, was man sich erhofft und ersehnt hat. Ein Loch, in den hintersten Kammern der Existenz. Und die Hoffnung, es jemals zu füllen hat man längst aufgegeben. Freudentränen fühlen sich nie freudig an, immer traurig, denn das Loch, das sie füllen, ist das Fundament unserer Bausubstanz: Liebe.
»Du wirst mir diese Fragen niemals stellen, oder?«
»Ich kann es nicht. Schließlich bist du mir keine Rechenschaft schuldig.«
»Stellst du immer so wenig Ansprüche?«
Ich schiebe ihn vorsichtig von meinem Schoß, um aufzustehen. Wenn Gespräche persönlich werden, kann ich nicht sitzen, weder Nähe noch Berührungen ertragen. »Sind es wenige Ansprüche? Ich möchte, dass du bleibst, aber ich will dich nicht halten. Ich möchte deine Freiheit, aber nicht, dass du mich verlässt. Du sollst bleiben, weil du es willst, nicht, weil ich es will. Es soll mir gut gehen, weil es dir gut geht. Ich finde, das ist ein hoher Anspruch.«
»Nur, solange du glaubst, irgendetwas dafür tun zu können.«
Einige Haarsträhnen hängen ihm ins Gesicht, er hat sich auf den Stuhl gesetzt und betrachtet meinen Spielzettel, während er mir zuhört. Erst, als er weiterspricht, sieht er mich an. »Wenn ich freiwillig bleiben soll, untergräbst du mit allem, was du dafür tust, die Freiwilligkeit.«
Ich setze mich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber. Es ist fast, wie beim Schiffe versenken damals in der Hütte. Nur tauschen wir nicht die Kleider, sondern die Stühle. Mein Kopf ist leer. Kein Gedanke darin, den ich aussprechen könnte. Gar kein Gedanke. Nichts, das er lesen könnte. Darius trinkt einen Schluck Wein, betrachtet mich ruhig, als hätte er mich noch nie angesehen, als wäre ich ein Kunstwerk, in dem es immer wieder Neues zu entdecken gibt. Vielleicht ein Bild von Escher. Nicht der ›Wasserfall‹ in dem der Wasserkreislauf perspektivisch falsch und inhaltlich richtig dargestellt wird. Regen ist der beste Beweis, dass Wasser nicht nur fällt, sondern auch steigt. Eher Eschers ›Pfütze‹. Spuren graben sich in den Boden, und dort, wo das Wasser sich in ihnen sammelt, spiegeln sich Himmel und Zweige. Fußspuren, Reifenspuren, irdisches Leben, das erst durch die Spiegelung der Welt perfekt wird. Vielleicht auch ein Bild von Magritte. Ein überdimensionales Weinglas, nur, weil Darius gerade aus einem trinkt, steht in der Landschaft vor einem Gebirge, eine Wolke liegt wie ein Wattebausch darüber. Schützt sie oder entweicht sie? Ich habe mich immer über den Titel des Bildes gewundert: ›Der wunde Punkt.‹
Vielleicht betrachtet er auch nur mich, die Falten in meinem Gesicht, die Augen, das weiße aber volle Haar. Ich kann seine Gedanken nicht hören.
»In deinen Wünschen findest du statt. In ihnen erkennen dich andere. Wer hat dir gesagt, dass du keine Wünsche haben darfst? In deinem schweigsamen Bemühen, es mir recht zu machen, erlebe ich die Sehnsucht, die du nicht äußerst.«
Nach einem Schluck Wein stehe ich wieder auf. Die Worte begreife ich nicht, schon gar nicht, was sie mit meinen Fragen an Darius zu tun haben. Ich sitze in einem Theaterstück und wünsche mir, ich könnte mitschreiben oder nachlesen.
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