Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Vielleicht würde ich dann etwas verstehen. Die Schauspieler reden zu schnell. Und wenn ich den einen Satz verstanden habe, habe ich drei weitere verpasst. Dabei redet Darius langsam.
»Ich musste damals gehen, damit du dich frei entscheiden konntest«, sagt er. »Wir hatten Sex und innerhalb einer Sekunde war mir klar, dass ich nicht bleiben konnte. Ich wusste, du würdest dich für mich entscheiden, nicht für dich. Schon deshalb wäre ich gern bei dir geblieben. Aber ich konnte nicht. Ich durfte die Entscheidung nicht beeinflussen. Manchmal trifft Liebe die falschen Entscheidungen.«
Theater. Wortreiche Erklärungen, die keinen Sinn ergeben. Von welcher Entscheidung spricht Darius? Was haben sie mit meinem Wünschen und der Liebe zu tun? »Du hast mich also aus Liebe zu mir verlassen?« Es hat keinen Zweck, die Bitternis hinunter zu schlucken. Er kann sie fühlen. Es ist sinnlos, den Gedanken für mich zu behalten. Er kann ihn hören.
Eine Träne läuft Darius’ Wange hinunter. Er nickt. »Es ist so, auch wenn du es nicht verstehst.«
Langsam sickern Ereignisse in mein Hirn, von denen ich Heinrich nie erzählen konnte, weil ich sie selbst vergessen hatte. Langsam kommen Erinnerungen, von denen ich nicht fassen kann, wie sie verloren gehen konnten. Wann habe ich sie verloren? Wo habe ich sie verloren?
3.
Kaum hatte ich die Hütte hinter mir gelassen, setzte ein leises Geräusch ein. Es war so unmerklich, dass ich nicht hätte schwören können, ob es mich schon länger begleitete, ob es nicht schon gewispert hatte, als ich dabei war, die Fensterläden zu schließen und das Haus zu reinigen. Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, oder ob es tatsächlich da war, so leise zirpte es an der Wahrnehmung. Allein, wie ich war, konnte ich niemanden fragen. Wäre Darius doch bei mir gewesen.
Ich ging ins Dorf, an dem Laden vorbei, der mich am Tag zuvor noch als Gast beschenkt hatte. Weder wusste ich genau, in welche Richtung ich laufen musste, noch, wie weit ich kommen würde und wo ich rasten könnte. Unverdrossen marschierte ich drauf los, den Rucksack mit meiner Kleidung und dem Proviant auf den Schultern, das Geflüster der Straße in den Ohren. Sah ich auf den Wegesrand, schien es mir, als huschten Heuschrecken über die matschigen Stoppeln. Es war kalt, aber die Sonne hatte genügend Kraft, den Boden aufzuweichen. Kaum jemand war außer mir unterwegs. Es begegnete mir kein Auto, kein Radfahrer. Nur ab und zu in den Dörfern traf ich Fußgänger, die mich grüßten. Das Zirpen hielt an, mal leise, mal lauter, immer am Rande der Wahrnehmung, immer fast verstummend, wenn ich innehielt und ihm zu lauschen versuchte. Als verfolgte es mich.
»Du bist allein. Hältst du es mit dir aus?«
Es lähmte mich, schreckte mich. Meine Schritte wurden schwerer, Hunger überfiel mich. Ich hätte in der Hütte bleiben sollen. Dort hatte ich zwar nicht gewusst, was ich machen sollte, mich wie ein Eindringling gefühlt, der nicht bleiben durfte, aber ich hatte es warm, hatte zu essen, ein Bett und meinen Traum vom Leben mit Darius. »Du hast keine Zukunft. Egal, wohin du gehst, wir werden dich begleiten. Wir werden dich bewachen und dir deine Lügen und Träume um die Ohren schlagen.«
Heuschrecken. Sie schwirrten wie eine Plage um meinen Verstand, quälten mich, beschimpften mich, säuselten, wisperten, leise und wirkungsvoll. Wie Diebe in der Nacht versteckten sie sich vor mir, wie Heckenschützen feuerten sie ihre Mahnungen und Beleidigungen ab. Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Schritt für Schritt. Sollte ich umkehren? Gäben sie dann Ruhe?
»Geh ruhig weiter. Was willst du in der Hütte? Deine Niederlage betrachten? Sehen, dass Darius nichts mehr mit dir zu tun haben will, nie zu dir zurückkommt?«
»Hört endlich auf!«, brüllte ich in die leere Luft, »haltet den Mund. Ich kann nicht mehr.«
Das Unkraut am Wegesrand zitterte leicht, für einen kurzen Moment verstummte das Konzert. Keine Grille war zu sehen. Ich atmete durch, rückte den Rucksack zurecht und ging weiter, immer links, der Fahrbahnrichtung entgegen, wie ich es in den Verschickungslagern der Nazis gelernt hatte. So, dass ich Autos rechtzeitig sehen und ihnen ausweichen konnte. Doch es kam kein Auto. Es war, als hätte das Leben eine Pause eingelegt und nur zu meiner Folter einen
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