Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
etwas. Ich kann mir die Gesichter der Männer, mit denen ich ausgehe, vielleicht sogar schlafe, nicht merken, ihre Namen nicht. Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren, wie ich einmal hieß, als wer ich geboren wurde. Ich weiß kaum, was ich getan habe in all den Jahren. Es hat sich so viel geändert, doch ich war dazu verdammt, beteiligungslos zuzusehen.«
»Entschuldigung. Ich wollte mich nicht über dich lustig machen.«
»Ich weiß.«
Wir erreichen Hohenwestedt, müssen auf die K80 nach Norden abbiegen. Die Sonne scheint jetzt flach über die Felder und zwischen den Häusern hindurch auf Darius’ Kopf. Über den Ziegeln der Dächer liegt weiß der Frost. Ich muss Darius nicht anschauen, ich muss nichts sagen, damit er weiter erzählt.
»Ich erinnere mich an ein Leben, das ich mal hatte. Ich wollte Weinbauer werden. Ob mein Vater auch einer war, weiß ich nicht. Aber die Reben auf den Hügeln, die Ernte, das barfüßige Stampfen der Trauben, das war meine Welt. Und es gab jenen jungen Mann, den ich nicht liebte, doch für den ich ins Gefängnis musste. Nach einem Fest und einer gemeinsamen Nacht hatte er mich angezeigt. Statt der Freiheit der Weinhügel, der sonnenreichen Südhänge hatte ich eine Zelle mit vergittertem Fenster zum Norden. Nicht lange, zehn Monate vielleicht. Monate, in denen ich manchem Häftling die Frauen ersetzte, wofür sie mich verachteten. Wahrscheinlich verachten wir immer, was wir brauchen, gerade, weil wir es brauchen. Damals war ich wirklich jung, unerfahren und ein willkommenes Opfer. Und weil sie wussten, weshalb ich im Gefängnis saß, glaubten sie alle, sie täten mir einen Gefallen. Jedenfalls taten sie so.
Nach einiger Zeit bekam ich einen neuen Zellengenossen, einen Mann, der mir uralt erschien. Zu alt, um noch ein Verbrechen zu begehen und, wie man in der Jugend denkt, viel zu alt, um noch Sex zu haben.
Er saß schon in der Zelle, als ich aus der Wäscherei kam, in der ich arbeiten musste. In langer Unterhose und im Unterhemd. Seine Gefängniskleidung hatte er ordentlich zusammengefaltet auf das Fußende seiner Pritsche gelegt. Als er mich sah, lachte er meckernd.
›So jung und schon so verdorben?‹
Ich würdigte ihn keines Grußes, wohl aber ließ ich ihn nicht aus den Augen. Im Gefängnis lernt man, auf der Hut zu sein. Auch an diesem Tag hatte ich für manch notgeilen Bock meinen Arsch hinhalten müssen, war dafür bespuckt und getreten worden. Jeder Rotz, der an mit klebte, jeder blaue Fleck, den sie mir verpassten, jeder Penis, den sie brutal und ohne Creme ich mich prügelten, machte mich verzweifelter und wütender. Die schmutzstarrenden und vergilbten Spermaflecken auf meiner Kleidung zeugte von den Vergnügungen anderer. Aber mich hielten sie für verdorben.
›Was hast du ausgefressen?‹, fragte er.
›Nichts.‹
Wieder hörte ich das meckernde, kehlige Lachen. Er legte sich auf den Rücken, zog nicht einmal die kratzende Wolldecke über sich, und sein Lachen wurde übergangslos zum Schnarchen.
- Das kann ja heiter werden -, dachte ich, war jedoch froh, dass er so schnell eingeschlafen war. So konnte ich unbeobachtet meine Notdurft verrichten und mich hinterher ans Fenster stellen, um wenigstens die Ahnung von Freiheit nicht zu verlieren. Der Himmel war blau, die Schieferdächer der Häuser glühten rot. Das war alles, was ich von der Sonne sehen konnte. Ich saß dort, bis der Himmel dunkel geworden war, in Jammer versunken. Warum war ich hier? Ich hatte Sex mit einem Mann, kaum ein Jahr jünger als ich, das war verboten. Aber warum? Was war so schlimm daran, was gingen die Staatshüter und Polizisten die verborgenen Befriedigungen in stillen Kammern an? Warum hatte der Freund erst mitgemacht, mich sogar verführt und dann verraten, warum hat mir niemand geglaubt …?
Du kennst ganz sicher die Liste der unendlichen Fragen, mit denen man sich quält, weil es keine Antworten darauf gibt, und mit denen man sich erleichtert, weil man die Ungerechtigkeit des Schicksals auf die Welt abschieben kann.«
Die Straße hatte uns in einer Schleife durch Hohenwestedt geführt. Die Landschaft ist nicht mehr so einsam. Die Häuser und Höfe stehen in Sichtweite zueinander. Ich frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, das Aloisiushaus vorher zu suchen. Aber Darius hatte uns vor fünfzig Jahren schon einmal zielsicher dorthin
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