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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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ich meinen Bericht abgeschlossen hatte.
          »Hast du den jungen Mann angezeigt?«
          »Nein.«
          Erst jetzt trank er einen Schluck und behielt die Tasse in der Hand. »Selbst, wenn er dich einer Straftat bezichtigt, die du begangen hast, hat er nicht das Recht, persönlichen Vorteil daraus zu ziehen oder das auch nur zu versuchen.«
          »Ich weiß. Die Polizei sichert homosexuellen Erpressungsopfern sogar Straffreiheit zu, wenn sie Anzeige erstatten.«
          Noch immer blieb mein Vater entspannt zurückgelehnt, schlürfte in geringen Abständen seinen Tee und schien zu überlegen. »Du solltest ihn anzeigen.«
          Ich nickte, rutschte in meinem Sessel etwas zusammen, spürte einen leichten Druck im Magen, leichte Unruhe. »Ich traue mich nicht.«
          »Das liegt bei dir.« Mein Vater erhob sich und ging zum Bücherregal. Er strich über die Buchrücken, tippte mit dem Zeigefinger darauf als zählte er sie. »Weißt du«, sagte er, »als du klein warst, habe ich manche Schläge darauf verwendet, diese Neigung aus dir herauszuprügeln. Die Zeiten haben sich geändert. Heute setzt man auf andere Erziehungsmethoden.« Er sah mich nicht an, tippte weiter über die Buchrücken, bis er eines der Bücher herauszog und in die Hand nahm. »Die Schläge haben offensichtlich versagt. Vielleicht lässt sich diese Neigung nicht herausprügeln. Vielleicht gehört sie zu dir, wie du behauptest. Gleichwohl ist sie verboten.» Mit dem Buch in der Hand kehrte er zu seinem Sessel zurück, setzte sich, blätterte in den Seiten, ohne hineinzuschauen. »Ich wünschte, es wäre nicht so, aber du bist mein Sohn.« Er hielt für einen Moment inne, überlegte, während ich in meinem Sessel klebte, immer mehr nach unten rutschte und dachte, ich sollte aufstehen und gehen. Lieber noch eine Stunde in der Kälte auf den Bus warten, als …
          »Verzeihung«, fuhr er fort. »Natürlich bin ich froh, dich als Sohn zu haben. Ich wünschte nur, du würdest nicht so empfinden.« Er klappte das Buch zu, legte es mit der Vorderseite auf den Tisch, zu weit entfernt für mich, um danach zu greifen, und trank einen weiteren Schluck Kamillentee. »Schon unter Hitler war die Liebe unter Männern verboten. Und doch hegten einige unserer fähigsten Gruppenleiter sie, haben sich vielleicht nur der Hitlerjugend angeschlossen hatten, weil sie die Knaben so anziehend fanden und in der Kameradschaft ein Ventil dafür gefunden hatten. In vielen Fällen blieb uns nur, es zu vertuschen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das in diesen veränderten Zeiten noch einmal nützlich sein würde.«
          Langsam rutschte ich in meinem Stuhl wieder nach oben. Ich schluckte. ›Bloß nicht flennen‹, dachte ich. Mein erkälteter Nazivater, so unerbittlich in seiner Strenge, war der Erste, der ruhig blieb. »Vertuschen?«
          »Vertuschen ist vielleicht das falsche Wort. Wir müssen einen Weg finden, wie du im Leben trotz dieser Neigung deinen Mann stehen kannst.« Er nahm das Buch wieder in die Hand, beugte sich zu mir, reichte es mir. »Du wirst fortziehen. Raus aus München. Vielleicht nach Hamburg. Eventuell kannst du dich dort an der Kunstakademie bewerben. Du liebst das Wasser und du hast Talent. Hamburg wäre etwas für dich. Hamburg gilt als weltoffene Stadt und Künstler haben unter fast allen Regierungsformen mehr Freiheiten. Du wirst uns zu Weihnachten besuchen, vielleicht zu Geburtstagen. Du wirst der Sohn sein, der es in der weiten Welt zu etwas gebracht hat. Es würde nur auffallen, müsste ich mir ständig neue Ausreden einfallen lassen, warum du nicht kommst. Davon, dass ich dich finanziell unterstütze, bis du auf eigenen Beinen stehst, muss niemand etwas wissen. Aber natürlich unterstütze ich dich. Schließlich bist du mein Sohn.«
          Mehreres erschreckte mich an der langen Rede. Manches, weil es mich überraschte, anderes, weil es so typisch war. Überrascht war ich von dem Rückhalt, den er mir bot, von der Unterstützung, die er mir zusagte. Das war nicht mein Vater, der mich Heinrichs wegen windelweich geprügelt hatte. Typisch war das Zupackende in seinen Worten, das Bestimmende, das selbst in Wörtern wie vielleicht noch zu hören war. So wird es gehandhabt, keine Widerrede. Der Pragmatismus, der in Problemen nur Lösungsanforderungen sah und mein Einverständnis voraussetzte, ohne mich zu fragen. In erster Linie aber war ich dankbar, gerade auch für diesen Pragmatismus.

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