Alias - Moederischer Nebenjob
KAPITEL 1
»Warum müssen wir eigentlich unbedingt im Studentenwohnheim wohnen?«, beschwerte sich Sydney Bristow und schaute von ihrer Dostojewski-Lektüre auf.
Genervt sah sie zu dem halb geöffneten Fenster hinüber. Zusammen mit der sanften Brise Kaliforniens drangen lautes Rufen und Gelächter in das Zimmer hinein. »Erstsemestler machen so einen fürchterlichen Lärm.«
»Falls du's vergessen hast, wir sind die Erstsemestler«, erwiderte Francie Calfo und wandte sich, mit einem knallroten Nagellackpinsel gestikulierend, auf ihrem Stuhl zu der Kommilitonin um. Die junge Schwarze hatte bereits vor geraumer Zeit ihr Lernpensum für den heutigen Tag als erledigt befunden und ihren Schreibtisch kurzerhand in ein Maniküretischchen umfunktioniert. »Außerdem ist heute Samstag und traumhaftes Wetter. Jeder vernünftige Mensch ist an einem solchen Tag da draußen und hat Spaß.« Wehmütig hob Francie ihre dunklen Augenbrauen. »Bitte hilf mir noch mal: Aus welchem Grund sind wir nicht da draußen?«
»Wegen mir«, sagte Sydney seufzend. Sie warf ihr Buch auf die dünne Wohnheimmatraze und stand auf, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
Auf dem frisch gemähten Rasen tummelten sich Studenten jeden Semesters und genossen den sonnigen Frühlingstag. Einige saßen lachend und plaudernd in Gruppen beieinander, andere hatten sich spontan zu Mannschaften zusammengefunden und tollten Ball oder Fang-mich-doch spielend herum wie junge Hunde. Frisbee-Scheiben segelten kreuz und quer über die Szenerie, und eine kichernde Mädchen-Meute rannte unermüdlich mal in die eine, mal in die andere Richtung in dem Versuch, einen großen, farbenprächtigen Drachen aufsteigen zu lassen. Shorts und Tank-Tops waren angesagt, und selbst von ihrem Fenster im fünften Stock aus konnte Sydney den fruchtigen Geruch von Sonnenöl wahrnehmen.
»Du solltest auch rausgehen und etwas unternehmen«, sagte sie und drehte sich abrupt zu Francie um. »Es gibt keinen Grund, dass du hier in der Bude hockst und mir beim Lernen zusiehst. Nach all den Stunden, die ich mit Geldverdienen zugebracht habe, hab ich fürs Studium einiges aufzuholen, aber du...«
»Was wäre ich denn für eine Freundin, wenn ich mich draußen amüsieren würde, während du hier schuftest und ackerst und dich durch. äh, was liest du da eigentlich?« Francie erhob sich und griff mit von feuchtem Nagellack glänzenden Fingerspitzen nach dem Buch, das auf Sydneys Bett lag. »Ist das. Was ist das?«
Sydney erstarrte. Warum nur hatte sie das Buch so offen liegen lassen?
»Dostojewski«, sagte sie rasch. »Für mein Einführungsseminar in Weltliteratur. Pflichtlektüre für alle Teilnehmer.«
Mit wenigen Schritten war sie bei Francie und wollte ihr die Lektüre aus der Hand nehmen, doch ihre Zimmergenossin brachte sich geschickt außer Reichweite und zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe. »In Russisch? Das ist doch Russisch, oder?«
»Na ja. schon, aber.«
»Ich will dich ja nicht demotivieren, Syd, aber den meisten Literaturdozenten reicht es völlig, wenn die Studenten die englische Übersetzung lesen. Mal abgesehen davon, wann hast du eigentlich Russisch gelernt?«
»Äh. eigentlich nie«, log Sydney. »Ich meine, ich dachte, ich könnte es später mal selbst unterrichten. Aber im Augenblick bereitet mir das alles noch ungeheure Kopfschmerzen...«
Zumindest das entsprach der Wahrheit.
Francie legte das Buch wieder auf Sydneys Bett zurück. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du verrückt bist. Mit deinen Seminaren und deinem Job bei der Bank hast du wohl noch nicht genug zu tun?«
Anstelle einer Antwort rang sich Sydney ein schwaches Lächeln ab.
Das Schlimmste sind die Lügen, dachte sie. Davon sagen sie dir nichts, wenn du in die CIA eintrittst. Du glaubst, das Schlimmste ist die Angst. Die Angst davor, eines guten Tages aufzufliegen und erwischt zu werden, oder vielleicht sogar getötet. Aber die Lügen. die Lügen begleiten dich jeden Tag.
»Du bist meine beste Freundin, Francie«, platzte sie heraus. »Und daran wird sich auch nichts ändern, stimmt's?«
Francie lachte entwaffnet. »Ich hab mich nicht seit dem letzten Sommer an deine Macken zu gewöhnen versucht, nur damit du dir jetzt eine andere Freundin suchst.«
»Niemals. Es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde«, sagte Sydney ohne Falsch.
»Außer mit mir an so einem wunderbaren Tag raus an die Sonne zu gehen.« Mit hoffnungsvollem Blick wies Francie auf das Fenster. »Vergiss die
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