Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
»Ich hätte nicht erreicht, was ich erreicht habe, wenn das Aloisiushaus diese Macht besäße. Ich habe es dir zu verdanken, der Sehnsucht, die in mir wach geblieben ist. Die normale Sehnsucht eines unsterblich Liebenden. Ich habe es meiner Entscheidung zu verdanken, zu kämpfen, statt mich zu verstecken oder in die Ecke stellen zu lassen. Und ich hatte viele Mitstreiter, die sich ebenfalls für den Kampf entschieden haben. Ich habe es sogar ein bisschen Fritz zu verdanken, der mich in den Abgrund gestoßen und damit meine Kraft mobilisiert hat. Aber an einen mystischen Zauber, der mir all das Unglück beschert hat, damit ich mich entscheide, glaube ich nicht. Dann hätte mich ja das Haus, das du fürchtest, stark gemacht. Darin liegt keine Logik.«
Gegen jede Vernunft lege ich mir ein Stück Burgunderbraten auf einen Teller, bediene mich an den Kartoffeln. Es riecht so gut..
»Aber du hast doch die Heuschrecken gesehen, den alten Mann, den du Wolpertinger nennst, die Schlangen. Du sitzt in dem Haus, isst von dessen Speisen. Du hast mich vor fünfzig Jahren gesehen, du siehst mich jetzt.«
»Ja«, sage ich. »Und das ist sehr schön so.« Ich zeige auf meinen Teller. »Möchtest du auch?«
Darius registriert es nicht. »Du kannst das doch nicht alles für abergläubischen Humbug halten?«
Zurück am Tisch stelle ich den Braten ab, setze mich, esse ein Stück. Halte ich es für abergläubischen Humbug? Im Moment erscheint mir alles real, das Geschehen von vor fünfzig Jahren hingegen erinnere ich wie einen surrealen Albtraum. Nie vollständig, nie einem logischen Faden folgend. »Es gibt wundersame Dinge, die wir nicht erklären können. Den dahinter liegenden Sinn entdecken wir manchmal erst spät, manchmal nie.«
Schweigen.
»Er ist noch genau so unhöflich wie damals.«
Zusammenzucken bei der meckernden Stimme, bei dem Blick nach rechts, wo plötzlich der Wolpertinger sitzt, so, wie ich ihn in Erinnerung habe, nur älter. Mindestens zweihundert Jahre alt.
Darius steht auf, geht um den Tisch, stellt sich hinter mich. Wenn er mich so beruhigen wollte, geht das schief. Jetzt werde ich nervös zwischen diesen beiden Menschen aus einer anderen Zeit.
»Mich hast du nicht gefragt, ob ich etwas möchte. Schon in Oy hast du mir nie etwas angeboten.«
Darius‘ Hände spüren, die Wärme, die sie ausstrahlen, den Druck auf den Oberarmen. Dem Knacken des Holzes lauschen, das zwischen Frost und aufgeheizter Luft arbeitet.
Auf den Dielen kriecht eine einsame Heuschrecke, die sich die Flügel reibt. Ein stummes Insekt, das sich vor der Kälte gerettet hat.
»Er ist meinetwegen hier«, sagt Darius. Das beruhigt mich. Wenigstens ein bisschen.
»Dein Freund darf mir trotzdem gern etwas zu essen anbieten.«
Ich gehe zum Buffet, fülle einen Teller mit Fleisch, Kartoffeln, Bohnen und Rosenkohl und Soße, suche nach Besteck, doch das liegt auf dem Tisch vor dem Wolpertinger, als wäre es schon immer da gewesen. Darius steht wie angewurzelt hinter meinem Stuhl. Die Hände auf der Lehne wartet er, bis ich mich wieder gesetzt habe.
»Wurde aber auch Zeit«, meckert der Wolpertinger. Er isst langsam und mit Bedacht, würdigt uns keines Blickes. Der Braten auf meinem Teller wird kalt. Ich starre diesen seltsamen Kerl an, spüre Darius hinter mir, seine Hände, die auf meiner Schulter zittern.
»Gafft mich nicht so an.. Das verdirbt mir ja den ganzen Appetit.«
Jetzt löst sich der Bann. Darius geht erneut um den Tisch, setzt sich, streckt mir die Hand über das Tischtuch, sieht mich an. Ich erwidere seinen Blick, muss leicht grinsen, sehe auch seine Mundwinkel zucken, während der Wolpertinger laut schmatzend seinen Teller leert.
»Ja ja, die Liebe«, seufzt er mit vollem Mund und kaum zu verstehen, »ist schon eine widerliche Sache. Ich sollte das nicht sagen, schließlich wird sie auch in der Bibel als höchste aller Tugenden bejubelt, aber wenn ihr mich fragt …« Der Wolpertinger wischt sich mit einer Serviette den Mund ab und schaut zur Tür. Weder Darius noch ich fragen ihn. Er wird ohnehin sagen, was er zu sagen hat.
»Die Liebe stellt immer alles infrage. Vor allem unsere Moral. Sie ist zu kurzlebig, uns dauerhaft zu binden, zu stark, um uns zu trennen, zu nachdrücklich in der Versuchung. Ohne die Liebe gäbe es
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