Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
ganzes Leben vergangen, seit ich sie das letzte Mal in den Armen gehalten hatte. Tränen schnürten mir den Hals zu und ich schluckte, als ich Rokan ansah. Ich hätte ihm gerne gedankt, aber ich brachte kein Wort heraus.
Er nickte mir zu. „Ich komme später wieder“, sagte er. „Dann müssen wir etwas bereden.“
Ich legte mich neben Agnès und schloss die Augen. Jetzt würde alles gut werden. Ihre Lebensgeister kehrten zurück. Nichts und niemand würde uns je wieder trennen. Niemals.
Lizzie summte eine leise Melodie, streichelte über Irinas Bauch; ließ ihre Fingerspitzen sanft über die dunklen Federn streichen, die am Hals blauviolett im Licht der aufgehenden Sonne schimmerten. Ihre Tochter sah sie an und gluckste verträumt. Lizzie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Sie sind braun“, sagte sie. „Deine Augen haben die Farbe geändert.“
Etienne schlang die Arme um ihre Taille und zog sie fest an sich. Sein Atem in ihrem Nacken. „Sie ist wunderschön.“
„Aber warum ist sie so?“
„So?“ Er drehte Lizzie zu sich und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Sie ist besonders. Genau wie ihre Mutter.“ Mit einem Kuss schloss er ihren Mund, küsste die Fragen fort; wischte die Zweifel mit seinen Händen beiseite.
Irina spürte ein Ziehen im Magen, als der Mann seine Arme um ihre Mutter legte und sie von ihr wegzog, zurück in die Blase aus Dunkelheit, die sie umgab, sobald sie sich von ihr entfernte. Und sie fror, ohne die wärmende Nähe, die tröstenden Worte, die beruhigenden Berührungen. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, füllte ihre Lungen mit Sauerstoff und schrie aus Leibeskräften.
„Lass mich.“ Lizzie wand sich aus Etiennes Umarmung. „Irina hat Hunger.“ Sie nahm ihre Tochter aus der Wiege, bettete sie in ihrer Armbeuge. Ihre schweren Brüste schmerzten.
Irina schmiegte sich an den warmen, weichen Körper, schloss die Lippen um die dunkle Brustwarze und begann zu saugen. Jetzt fühlte sie sich sicher. Sie gehörten zusammen. Kein Knäuel aus Dunkelheit, das sie trennte, keine fremden Hände, die sie von ihr fernhielten. Sie brummte wohlig und schloss die Augen.
Lizzie spürte, wie sich ihre Brüste leerten, genoss das Ziehen, das ihren gesamten Körper erfüllte; das Ziepen der zerbrechlichen Finger, die mit ihren Haaren spielten; den Geruch nach süßer Milch und frischem Wind, der von Irinas Körper ausging. Sie legte sich mit dem Kind aufs Bett, hielt sie fest in den Armen, fühlte ihren Herzschlag.
Langsam kroch der Schlaf auf Irina zu, legte sich träge über ihre Sinne, verwischte die Konturen des Zimmers. Nur die Anwesenheit ihrer Mutter, stark und voll von Gefühlen, die sie Liebe genannt hätte, hätte sie das Wort gekannt, nahm sie mit in ihre Träume.
Etiennes Hände rissen Lizzie aus ihrem zufriedenen Dösen, hart und fordernd an ihren Schenkeln. „Sie schläft“, sagte er. „Leg sie zurück in ihre Wiege und komm her, Princesse.“
Irinas Arme zuckten, ihre Finger klammerten sich an Lizzies Haaren fest.
„Später“, flüsterte sie. „Lass uns jetzt allein.“
Er stopfte sein Hemd in die Hose und nahm seine Jacke vom Haken. Ohne ein weiteres Wort ging er nach draußen. Irina lächelte, als die Tür krachend ins Schloss fiel, und drückte ihr Gesicht fester an die weiche Haut ihrer Mutter.
Ein schriller Pfiff weckte mich und Agnès‘ Hand zuckte in meiner. Ich strich ihr über die Stirn, küsste ihre geschlossenen Lider. „Ich bin bald zurück“, flüsterte ich und ging hinaus.
Ich richtete die Decke vor dem Eingang und wurde zu Boden gerissen. Ein schwerer Schatten sprang über mich und schleckte mir das Gesicht ab. Ich versuchte mich zu wehren, doch dann lachte ich ungläubig auf. „Johnny?!“ Das konnte doch nicht wahr sein! „Wo kommst du denn her?“
„Ich habe ihn mitgenommen.“ Vorak trat hinter der Hütte hervor und Johnny begrüßte ihn stürmisch. „Er trauerte unter meiner Vatereiche. Ganze zwei Wochen.“
Ich kraulte Johnny hinter den Ohren und hielt inne. „Moment mal“, sagte ich. „Du warst da? Damals, als Großmutter starb?“
„Ich war immer da, Catrin.“ Er schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und beobachtete zwei Raben, die über der Siedlung kreisten. „Du hast mich doch gesehen, nicht wahr?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das waren doch nur Großmutters Geschichten.“
„Wie es scheint, lag ich mit meiner Vermutung gar nicht so falsch. Lobotomien sind eine verflixte Sache! Sagt, wer
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