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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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man durch die Baumkronen erkennen konnte, waren Wolkenverhangen und grau.
    Agnès war mit mir gefallen, ich hatte ihre Hand gehalten. Aber irgendwo musste ich sie verloren haben. Wo war sie angekommen? Wo sollte ich nach ihr suchen? Und vor allem, wie? Die Bilder in ihrem Haus waren verschwunden gewesen, also saß ich hier fest, während sie … Oder gab es noch andere Wege? Vielleicht gab es noch andere Bilder, als die, durch die wir gegangen waren.
    „Wie nah steht der Mond der Sonne?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass Rokan an den Tisch getreten war und mich ansah. In der Hand hielt er einen Beutel. „Ich muss die Fallen kontrollieren“, sagte er. „Du kannst hier bleiben, es wird nicht lange dauern. Ruh dich aus.“
    Er schlang den Mantel um sich und sein Gesicht verschwand fast vollständig unter der großen Kapuze. Mit einem Fußtritt beförderte er die Kiste zurück unter das Bett. Eine Böe wehte Schnee ins Haus, als er hinaus schlüpfte.
    Ich ging im Zimmer umher und versuchte die Tiere nicht anzusehen. Egal in welchem Teil des Raums ich mich befand, sie schienen mich immer im Blick zu haben.
    Rokan sammelte die absonderlichsten Sachen. Auf den Regalböden stapelten sich Tannenzapfen, neben Zweigen und einer Holzschale mit Glasaugen in unterschiedlichen Größen und Farben. Ich nahm eins davon in die Hand und ließ es mit einem Schrei fallen. Es hatte sich feucht angefühlt, glitschig. Ich schauderte und rieb meine Hand an meinem Bein. Dann ging ich auf die Knie, um nach dem Auge zu suchen, das unter das Regal gerollt war. Ich tastete den Boden ab. Durch einen Holzspalt fiel ein Lichtschein auf meine Finger. Draußen war es düster, hinter der Wand musste also noch ein Raum sein, den ich nicht bemerkt hatte. Das Regal spannte sich über die gesamte Seite. Wie konnte man ins Nebenzimmer gelangen? Von draußen? Ich fühlte das kalte, glatte Material des Auges und legte es zurück in die Schale, ohne es noch einmal anzusehen.
    Es ging mich nichts an, warum das andere Zimmer vom Wohnbereich abgeteilt war. Wahrscheinlich handelte es sich nur um eine Vorratskammer, aber warum brannte Licht darin?
    Ich trank meinen Wein aus und stand unschlüssig neben dem Tisch. Rokan war noch nicht lange fort, ich hätte also genug Zeit. Ich öffnete die Tür und trat in den Schnee hinaus. Vereinzelte Schneeflocken wirbelten durch die eisige Luft. Mein Atem bildete Wolken vor meinem Mund.
    Ich ging um die Hütte herum. Nebelschleier krochen über den vereisten Boden. Irgendwo fauchte ein Dachs. Ich beschleunigte meine Schritte, aber keine Tür, nicht einmal ein Fenster befand sich an der Rückseite des Hauses. Enttäuscht ging ich wieder hinein, schüttelte mir den Schnee aus den Haaren und starrte das Regal an. Die toten Augen starrten grün und gold und bernsteinfarben zurück. Ich tastete das Regal ab und fand einen Hebel, der sich ganz offen am rechten äußeren Brett befand. Warum hatte ich den eben nicht bemerkt? Ich drückte ihn nach unten und das Regal ruckte mit einem Klack nach vorne. Mit beiden Händen zog ich daran und sah in ein durch mehrere Laternen beleuchtetes Zimmer. Ratten, Marder, Hasen. Feinsäuberlich in Reih und Glied am Deckenbalken aufgehängt. Und auf einen Rahmen gespannt, das Fell einer Katze, samt Kopf. Leere Augenhöhlen. In meinem Mund sammelte sich Speichel und ich würgte.
    Ich wollte die Öffnung wieder schließen, als ich etwas Glitzerndes auf dem Tisch entdeckte, der in der Mitte des Raumes stand. Ich nahm den silbernen Gegenstand in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten. Ich bewegte die Lippen und schüttelte den Kopf, rieb mir die Schläfen. Es dauerte einen Moment, bis ich das Wort gefunden hatte, das den Gegenstand bezeichnete. Feuerzeug. Das Wort kam mir merkwürdig vor, wie etwas, das man vergessen hat; das nur noch auf einer Ebene existiert, die weit unter dem liegt, was man real nennt. Das war ein Feuerzeug. Aber warum erschien es mir so unwirklich? Natürlich hatte ich schon Feuerzeuge gesehen. Aber wo und wann? Ein dumpfes Surren in meinen Ohren erschwerte mir das Denken. Ich steckte das silberne Feuerzeug in meine Tasche und schloss die Regaltür, lehnte meine Stirn an das Holz. Ich vermisste Agnès. Und ich musste sie wieder finden. Vielleicht hing sie fest, in einer Art leerem Raum, und konnte nicht ohne Hilfe zurück gelangen. Ich sollte mit Marie reden, wenn sie so etwas wie Agnès‘ Mutter war, dann würde sie mir sicher helfen. Und dann würde ich Lizzie alles

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