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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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hinten.“ Sie deutete mit dem Kinn auf ein Holzregal, auf dem verschiedene Dosen und Flaschen standen. Auf dem untersten Brett fand ich einen Weidenkorb, in dem Wollknäuel in allen möglichen Brauntönen lagen, einige von Stricknadeln durchbohrt, andere zu unlösbaren Knoten verwirrt. Ich stellte den Korb neben Marie auf den Boden. Sie beugte sich ächzend hinunter und nahm ein paar der Gebilde heraus, begann sie zu entknoten. Die knochigen Finger schoben sich in ein Knäuel, lockerten, zupften lose Stränge hervor. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und sah der Alten zu, wie sie die Fäden mit vor Konzentration gefurchter Stirn entwirrte.
    „Großmutter war so müde“, sagte ich nach einer Weile. „Das sah ihr gar nicht ähnlich.“
    „Nimm dir Tee.“
    Ich holte mir einen Becher und schenkte mir aus der Kanne ein, die über dem Feuer hing, nahm sie mit an den Tisch. „Sie war auch sehr blass, ob sie krank war? Ich hätte besser auf sie achten müssen; hätte sie nicht allein lassen dürfen.“
    Marie sah von ihrer Arbeit auf. „Und was hätte das geändert?“
    „Wenn sie erfroren ist, werde ich mir das nie verzeihen.“ Ich wärmte meine Handflächen an dem heißen Becher, trank einen Schluck. „Sie wollte, dass ich die Geschichte zu Ende höre“, sagte ich.
    „Manche Geschichten dürfen kein Ende haben und manche sollten gar nicht erzählt werden.“
    „Marie, wenn du doch nicht immer Rätseln sprechen würdest.“
    „Tue ich das denn?“ Die Gesichtszüge der Alten entspannten sich. „Das Ende mancher Geschichten ist wandelbar wie Wasser“, sagte sie und warf die Wolle zurück in den Korb. „Oder so schwer zu entwirren wie dieses vermaledeite Strickgarn.“ Sie hielt mir ihren Becher hin und ich schenkte ihr nach.
    „Kannst du mir helfen Agnès zu finden?“, fragte ich.
    „Warum willst du das?“
    „Nun ja, ich …“ Maries Blicke prickelten wie Brauseperlen auf meiner Haut und ich schlug die Augen nieder, starrte auf meine Hände.
    Sie nahm ihren Stock und stand auf. „Dann solltest du sie nicht suchen. Geh und finde das Ende deiner Geschichte.“
    „Aber wie denn?“, rief ich ihr nach. „Großmutter ist tot!“ Ich hielt den Atem an, erschrocken über das was ich gesagt hatte. War sie tot? Natürlich war sie das. Ich hatte an ihrem Grab gestanden, hatte zugesehen, wie der schwere Sarg in die Grube hinabgelassen worden war. Blinzelnd. Die Oktobersonne im Gesicht, Lizzies bleierne Hand in meiner.
    Ich hörte Maries Stock auf den Treppenstufen klappern und räumte ihre Stricksachen zurück in das Regal.
    Beim Hinausgehen strich ich mit den Fingerspitzen über das Gemälde, fühlte die Farben. Kleine Erhebungen und Senken aus Grün und Grau und Sonnengelb. Sonst nichts.

Kapitel 11

    I ch hatte die Decke in Maries Küche vergessen und stand in meinem dünnen Kleid auf dem Dorfplatz neben dem Brunnen, eingehüllt in dichtes Schneetreiben. Auf dem First von Agnès‘ Haus hockte ein Rabe, bewegungslos. Die Haustür stand einen Spalt breit offen. Meine Zähne klapperten. Alles um mich herum schien falsch zu sein. Selbst das Grau der Wolken erschien mir unecht. Wie ein Bild, dem man die Seele geraubt hat und das nur aus Oberflächlichkeit besteht. Leinwand, Farben, Häuser, aber kein Leben. Ich fühlte mich leer, so seelenlos wie die Umgebung. Ich wollte mich unter einer Decke verkriechen und schlafen. Bis zum Frühling oder so lange bis dieses Gefühl in mir verschwunden war. Vergessen. Nicht mehr denken. Aber wenn ich jetzt aufgab, dann wäre das schlimmer als sterben. Ich nahm eine Handvoll Neuschnee vom Brunnenrand und formte einen Ball daraus.
    „Verschwinde!“, rief ich, während ich auf Agnès‘ Haus zu rannte. „Sie ist nicht tot!“ Ich schleuderte den Schneeball, aber bevor er das Dach erreichte zerfiel er. Der Rabe sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an. „Ich werde sie finden“, sagte ich. „Und weder du noch sonst jemand wird mich daran hindern.“
    Was auch immer hier nicht stimmte, ich durfte nicht vergessen. Das Gefühl schon viel zu viel vergessen zu haben, saß wie ein Geier in meinem Magen, nagte an meinen Eingeweiden. Meine Hand ballte sich um den Gegenstand in meiner Tasche. Feuerzeug.
    Ich riss die Haustür auf und sah mich noch einmal gründlich in Agnès‘ Haus um. Irgendeinen Hinweis musste es doch geben, irgendetwas, das mich zu ihr führen würde.
    Ich nahm das Bild vom Kaminsims, pustete den Staub hinunter. Und unter meinem Atem schienen sich die

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