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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Hundert Taler für sein Schweigen.
    Das Ding kreischt. Selbst unter dem dicken Tuch, das ich über den Käfig gedeckt habe. Ich will es töten. Jeden verwünschten Tag. Aber ich kann es nicht. Es hat D eine Augen.

    Ich ließ das Buch fallen. Klammerte mich am Rand meines Bettes fest. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Das war nicht das, was ich gehofft hatte zu finden.
    Ich hatte im Türrahmen von Agnès‘ Haus gesessen, bis meine Beine steif gefroren waren. Dann erinnerte ich mich an die Truhe auf dem Heuboden. Und die Bilder die darin gelegen hatten. Das war eine Chance. Ein Strohhalm nur, aber eine Chance.
    Auf gefühllosen Füßen schwankte ich zum Pferdestall. Ich biss die Zähne zusammen. Das Tor war geschlossen, ließ sich aber problemlos zur Seite schieben. Die Pferde wurden unruhig, schnaubten, beruhigten sich aber schnell wieder. Ich kletterte die Leiter hinauf und fand die Holztruhe, hob den schweren Deckel an und fiel auf die Knie. Ich zerrte die Bilder heraus. Sah sie an, warf sie neben mich auf den Boden. Bis ich inmitten eines Berges von Leinwänden hockte. Leerer Leinwände. Auf keiner einzigen war auch nur ein Pinselstrich zu sehen, kein Tropfen Farbe. Ich schluchzte tonlos auf.
    Auf dem Boden der Truhe lag noch etwas. Nur ein zerfleddertes kleines Buch. Es war mit einem Bindfaden verschlossen. Ich hauchte in meine kalten Hände, hatte Mühe den Knoten zu lösen. Die Seiten waren dicht beschrieben. Eine krakelige Handschrift, die ich im Dämmerlicht des Heubodens nicht entziffern konnte. Also nahm ich es mit ins Gasthaus. Wo hätte ich sonst hin sollen? Auf dem Tresen im Schankraum brannte eine Kerze, Chloé war nirgends zu sehen. Ich ging so leise wie möglich auf mein Zimmer und begann zu lesen.
    Ein Tagebuch? Die Einträge waren mit Daten versehen. Tag und Monat, aber keine Jahreszahl. Einige Seiten fehlten, andere waren offenbar nass geworden und unleserlich. Die, die noch erhalten waren, trugen keine Unterschrift. Wem mochte das Buch gehört haben? Und warum hatte es in der Truhe gelegen? Ich wünschte, ich hätte mit jemandem reden können. Jemand, der mir half, meine Gedanken zu ordnen; die Knoten in meinem Kopf zu entwirren.
    Ich fand auch einige Zeichnungen. Es waren nicht mehr, als Kritzeleien. Fahrige Tuschezeichnungen, mit zittrigen Strichen angefertigt. Keine besonderen Motive. Bäume, Tiere, hier und da ein Haus.

    16. Mai
    Du hast angefangen zu ma len. Ich bin so froh! Ich habe D ich in den Garten gebracht. Dich unter die Birke gesetzt, die Du so magst. Ich muss D eine Finger um die Feder schließen und sie in die Tus che tauchen. Aber dann bewegst Du D eine Hand selbstständig über das Papier .
    Es ist nicht zu erkennen, was D u zeichnest, a ber ich sehe, worauf Du D eine Blicke richtest und zeichne in mein Buch, was Du ansiehst. Siehst D u a n, was ich ansehe? Oder siehst D u etwas anderes? Etwas, das ich nicht sehen kann? Dein Blick ist immer noch leer. Kannst Du irgendetwas sehen?
    Das Ding hat aufgehört zu kreischen. Es starrt mich an. Ich versuche es zu ignorieren. Ich kann seine Augen nicht ertragen. Aber es ist ruhig, wenn es in Deiner Nähe ist. Und Dein Körper verliert etwas von der verkrampften Haltung. Gestern dachte ich, Du hättest gelächelt. Aber es war nur ein Schatten, der um Deine Mundwinkel spielte.
    Wie lange noch?

    21. Mai
    Deine Haut hat etwas Farbe bekommen. Aber Deine Augen liegen immer noch in dunklen Kratern. Ich glaube, Du freust dich auf die Stunde unter der Birke. Ich habe Dich hinausgebracht, sobald die Sonne aufgegangen war. Es wird gefährlicher von Tag zu Tag. Die Bauern arbeiten auf ihren Feldern. Die Buchsbaumhecke schützt uns vor neugierigen Blicken. Aber was, wenn doch einmal jemand – Ich will nicht daran denken. Sie sind so voller Furcht. Sie würden es nicht verstehen.
    Der Pastor stand am Gartentor, als ich mit dem Tee hinauskam. Ich habe den Käfig zugedeckt, aber ich glaube er hat das Ding gesehen. Er ist fast ins Dorf zurückgerannt. Ich muss zu ihm gehen. Jetzt gleich. Aber lange werde ich ihn nicht mehr unter Kontrolle halten können. Er hat Angst, wie alle. Ich habe das Zittern seiner Hände gesehen.

    21. Mai, Nachmittags
    Deine Fesseln haben sich gelockert. Es ist nur zu Deinem Besten. Das verstehst Du doch? Sie schmerzen mich mehr, als Dich, das musst Du mir glauben. Ich muss die Seile gegen Ketten tauschen.
    Ich sollte auch einen stabileren Käfig besorgen. Die Gitterstäbe haben Dellen. Ich weiß nicht, wie stark das

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