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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Sprichwort. Ein Sprichwort kann Türen öffnen, genau wie ein Schlüssel. Ist das nicht schön?“
    Die Frau begann mir lästig zu werden. „Auf fremdem Arsch ist gut durch Feuer reiten“, wi e derholte ich Großmutters Glückskeksspruch und hoffte , dass sie sich damit zufrieden gab.
    „Danke schön“, sagte sie. „Welcher darf es sein?“
    „Überraschen Sie mich einfach.“
    Sie kreiste mit den Fingern über den Schlüsseln wie ein Geier über einer Ebene voller Kadaver. Dann stieß sie blitzschnell hinab, drückte mir einen in die Hand und verschwand genauso schnell in der Menschenmenge. Ich sah der Frau nach und spürte Tränen in meinen Augen brennen.

    15. Juni
    Alle Versuche sind fehlgeschlagen. Du scheinst ferner denn je. Das Ding wird schwächer. Es trinkt das Wasser, rührt aber die Fleischbröckchen nicht mehr an. Ich wünschte mir so oft es würde sterben, aber ich fürchte mich auch davor. Was wird dann mi t D ir geschehen?
    Die anderen Dinger warten. Sie kommen in der Abenddämmerung und starren zu Deinem Fenster hinauf. Sie versuchen nicht einzudringen. Sie sitzen einfach nur da. Mich fröstelt bei ihrem Anblick. Diese schwarzen Augen, wie eine Nacht, die den Mond gefressen hat. Ich weiß, was sie wollen, aber eher werde ich sterben, als Dich ihnen auszuliefern.
    Die Dorfbewohner rotten sich zusammen. Der Pastor verweigert mir seine Hilfe. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich werde Dich von hier fort bringen. Dich und das Ding.
    Deine Mutter hat aufgegeben. Der Dokto r sieht einmal in der Woche nach ihr, aber er kann nichts mehr für sie tun, sagt er. Es bricht mir das Herz, aber ich muss sie zurücklassen.

    Rokan klappte das Buch zu, als ich mich wieder neben ihn auf die Stufen setzte.
    „Wo warst du?“, fragte er.
    „Nirgendwo. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.“
    Ich zeigte ihm den Schlüsse l und sah ihn mir selbst zum e rsten Mal richtig an. Ein Stein stellte ich erstaunt fest. Ein etwa vier Zentimeter langer, glänzend brauner Stein in Schlüsselform . Im Griff befand sich ein Lach . Rokan nahm ihn mir aus der Hand und hielt ihn ins Sonnenlicht. Dann fädelte er einen Lederriemen durch das Loch, hängte ihn mir um den Hals und steckte das Buch in den Rucksack.
    „Wir müssen uns beeilen“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, dass die Zeit drängt.“
    Wir machten uns auf den Weg in die Richtung, in der das Hochhaus bei unserer Ankunft gestanden hatte.
    Ich war immer zu Orten gelangt, an die ich eine gute Erinnerung hatte. Das Haus mei ner Großmutter, der Rummelplatz. Steckte vielleicht ein System dahinter ?
    „An welchen Orten hat sich Agnès gerne aufgehalten?“, fragte ich.
    „In ihrem Haus, bei ihren Bildern.“
    „Und sonst? Wo noch? Herrje, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“ Ich knuffte ihn in die Schulter.
    „Entschuldige, aber ich weiß es nicht.“
    Wir gingen schweigend nebeneinander her. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich Agnès sogar riechen. Den Duft ihrer Haa re nach frischen Kräutern, ihre Haut. Ich vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Ich blieb stehen und zog das Bild aus meiner Tasche, betrachtete den Kastanienbaum.
    „Was ist?“, fragte Rokan.
    „Es muss einen Grund geben, dass dieses Bild in ihrem Haus geblieben ist, während alle anderen verschwunden sind. Wie funktioniert es? Wie geht man hinein?“
    „Niemand weiß es. Und Agnès hat noch niemand en mitgenommen, soweit ich weiß … Niemanden außer dir.“ Er streichelte behutsam über meinen Handrücken und ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

Kapitel 15

    W ir standen vor dem Spielwarengeschäft und ich fragte mich, ob wir den gleichen Weg zurück gehen könnten, auf dem wir hergelangt waren.
    „Ich glaube nicht, dass das möglich ist“, sagte Rokan, der meinem Blick gefolgt war. „Und willst du das denn? Im Dorf wird alles sein , wie es war. Wie es seit viel zu langer Zeit schon ist.“
    Ich schüttelte den Kopf. „Lass uns nach dem Ursprung des Summens suchen. Das muss etwas bedeuten.“ Das hoffte ich zumindest .
    Die Fensterfront des Hochhauses glitzerte durch die Krone des Lindenbaums. Die alte Frau und ihr Dackel waren verschwunden, stattdessen saßen einige Jungen auf der Bank. Sie starrten Rokan unverblümt an und lachten.
    Ich ging auf sie zu, doch Rokan packte meinen Ärmel und zog mich weiter. „Lass sie“, sagte er. „Ich bin es gewohnt, dass mein Anblick beeindruckt.“
    Nachdem wir durch einige verwinkelte Gassen gelaufen waren,

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