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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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standen wir vor dem Eingang des Hochhauses. Neben dem Eingang war eine Tafel angebracht. Ärzte, Versicherungsbüros, Anwälte. „E in Geschäftsgebäude“, sagte ich, schob de n Flügel der Drehtür nach innen und ging hindurch. Der Ei ngangsbereich war klimatisiert. „Gottseidank ! Diese Klamotten sind bequem, aber nicht für diese Hitze geeignet.“ Ich drehte mich zu Rokan um, aber der stand immer noch draußen, schob die Drehtür mal in die eine, mal in die andere Richtung und klopfte mit den Knöcheln an die Scheibe. Ich holte ihn also ab. „Nun komm schon“, sagte ich lachend. Aber ich musste ihn hinter mir her ziehen. Ka um war er eingetreten, blieb er stehen und lauschte. „Das ist es“, flüsterte er. „Aber ich kann es nicht orten. Kannst du den Ursprung ausmachen?“
    Ich zuckte die Achseln. „Welchen Ursprung?“
    „Den Ursprung des Summens.“
    Ich konzentrierte mich. Zwei Frauen in schlichten Kostümen kamen die Treppe herunter. Absatzgeklapper, Murmeln. Irgendwo klingelte ein Telefon. Jemand hustete. Kein Summen.
    „Ich höre nichts“, sagte ich. „Wie klingt es denn?“
    „Einladend, wunderschön, bedrohlich.“ Er sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Verzückt traf es nicht ganz, kam dem aber ziemlich nah. Und dann lief er auf eine Tür am Ende der Halle z u; d rängelte sich zwischen den b eiden Frauen durch, die schnell zur Seite sprangen, s onst hätte er sie wohl umgerannt.
    „Rokan, warte!“, rief ich, doch er war schon durch die Tür geschlüpft. Ich rannte ihm nach, folgte ihm die Treppe hinunter . Das Klappern seiner Sohlen hallte von den Wänden wider. Nach einer Biegung hatte ich ihn eingeholt. „Was machst du denn? Warte doch auf mich.“
    „Es ist ganz in der Nähe.“ Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, obwohl es angenehm kühl war. Er presste seine Hände auf die Ohren.
    „Ist das Geräusch lauter geworden?“ Ich konnte immer noch keine Summen hören.
    „ Unerträglich.“ Aus Rokans Gesicht war die Farbe gewichen und er atmete schwer.
    „Dann sollten wir besser wieder nach oben gehen“, sagte ich, doch er schüttelte den Kopf und deutete mit dem Kinn in den Gang, der zu unserer Rechten abzweigte.
    Langsam ging er weiter, leicht nach vorne gebeugt, als stemmte er sich gegen einen Sturm an. Die Gänge wurden nur durch das schwache Licht einer Notbeleuchtung erhellt. Ich folgte ihm in einigem Abstand und versuchte mir den Rückweg einzuprägen – links, rechts, rechts, zwei Stufen nach unten, links, rechts. Dann hörte ich eine Stimme: „Hallo? Ist da jemand?“
    Ich packte Rokans Arm. „Wir müssen hier weg. Die Frauen haben bestimmt den Sicherheitsdienst gerufen. Wenn die uns finden, haben wir ein Problem. Ich kann mich nicht ausweisen und du wohl auch nicht.“
    „Da! Da ist es!“ Rokan schüttelte mich ab und zeigte auf eine Eisentür, über der ein Notausgangsschild leuchtete. „ Großer krâ , das ist ein gewaltiger Riss!“, keuchte er. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht und den Hals hinab, seine Gesichtszüge waren vor Schmerzen angespannt. „Die Welten drängen durch den Türspalt, sind kaum zu bändigen. Kein Wunder, dass das Summen so ohrenbetäuben d ist.“ Er hüpfte vor Freude und krümmte sich gleich darauf zusammen. „Lass uns hindurchgehen, lange kann ich das nicht mehr ertragen. Es zerreißt mich.“
    Ich sah nur eine blaue Eisentür und hörte wieder die Stimme des Wachmannes, der uns den Rückweg abschnitt: „ Wartet !“
    Es gab keine Abzweigung mehr, wir saßen in der Falle . Der einzig mögliche Weg führte durch den Notausgang. Rokan hatte die Hände von den Ohren genommen und rüttelte verzweifelt an der Tür .
    „Du musst den Hebel umlegen.“ Ich drückte die Eisenstange nach oben und die Tür schwang auf. Sofort ertönte ein Alarmton. Und Rokan sprang. Licht blendete mich, ich griff blind nach seinem Arm und riss ihn zurück, stolperte und fiel mit ihm. Ich klammerte mich an seinem kleinen Körper fest, umschlang ihn. Die Angst ihn zu verlieren schnürte mir den Hals zu.
    Dann hörte ich seine Stimme. Nein, ich spürte sie an meinem Hals. Er stöhnte. „Anfang und Ende“, flüsterte er. „Ich wusste nicht, dass es so sein würde.“
    Seine Lippen streiften meine und ich fühlte mich so einsam wie noch niemals zuvor. Ich presste mich an ihn, roch Winter und Sommer, fallendes Laub, Wind, einen Sonne naufgang, Blaubeerkuchen, frisches Heu, nassen Hund, Tinte. Und dann schlug ich

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