Cora - MyLady 334 - Clay, Merilyn - Miss Tessa aus Amerika
1. KAPITEL
Mai, 1816
Tessa Darby umklammerte die Reling des prächtigen Seglers, der durch das graubraune Wasser der Themse pflügte. Gespannt spähte sie durch den Nebel. Als Sonnenstrahlen den Dunst durchbrachen, erhaschte Tessa einen ersten Blick auf London. Ihre Heimat! Endlich war sie zu Hause angekommen. Sie atmete die salzige Luft in tiefen Zügen ein.
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie zurechtkommen, meine Liebe?« fragte Mrs. Benton-Caldwell, die Tessa auf der Überfahrt von Amerika begleitet hatte. »Mir ist es nicht ganz recht, Sie nach unserer Ankunft einfach Ihrem Schicksal zu überlassen.«
»Ich komme schon klar!« erwiderte Tessa aufgeregt und sah mit blitzenden Augen auf die riesige Metropole London, die sich nun immer näher in ihr Blickfeld schob.
Eine halbe Stunde später drängten sie und Mrs. Benton-Caldwell sich mit Hunderten von weiteren Passagieren über den
wackligen
Landungssteg
hinunter
zu
den
Menschenmassen am Kai.
»Wenn ich doch Zeit hätte, Sie an Ihr Ziel zu bringen«, sagte Mrs. Benton-Caldwell besorgt.
»Dann würden Sie die Kutsche nach Margate verpassen, Ma’am. Ich komme schon zurecht, wirklich. Ihre Familie erwartet Sie schon so lange!« Allerdings nicht halb so lange, wie Tessa auf ihre Rückkehr nach England gewartet hatte.
Mittlerweile war Tessa eine erwachsene Dame von neunzehn Jahren; sie war noch ein Säugling gewesen, als ihre Mutter als junge Witwe den Schoß ihrer Familie verlassen hatte und ihrem zweiten Ehemann, dem mächtigen Senator John Hamilton Darby, in seine amerikanische Heimat auf ein weitläufiges Anwesen am Rand von Philadelphia gefolgt war.
Wenig später hatte Tessa einen kleinen Bruder bekommen, David. Mit zehn Jahren hatte man ihr die Wahrheit über ihre Herkunft gesagt: Senator John Hamilton Darby war nicht ihr richtiger Vater. Ihr richtiger Vater war ein Engländer, ein schneidiger junger Offizier, der in des Königs leichtem Dragonerregiment gedient und sein Leben auf dem Schlachtfeld hatte lassen müssen, ohne seine kleine Tochter je zu Gesicht zu bekommen.
Die Wahrheit hatte Tessa völlig aus der Fassung gebracht. Obwohl ihr völlig klar war, dass Senator Darby seit der Geburt seines Sohnes all seine Liebe auf den kleinen David richtete, war er doch der einzige Vater, den sie je gekannt harte. Von dem Moment an verbreiterte sich jedoch die schmale Kluft, die seit jeher zwischen Stiefvater und Stieftochter bestanden hatte.
Tessas Mutter liebte ihre kleine Tochter von ganzem Herzen; oft gestand sie ihr, wie sehr sie ihrem gut aussehenden Papa glich, der ihr Herz auf ihrem Debütball in London erobert hatte.
»Du hast das schöne rotbraune Haar deines Vaters geerbt, meine Süße«, hatte ihre Mutter ihr oft ein bisschen sehnsüchtig zugeflüstert. »Und seine klaren blauen Augen.
Nimm dir die Zurückweisung deines Stiefvaters nicht so zu Herzen. Du bist die Tochter deines Vaters, und er war ein wunderbarer Mann. Captain Benning hat sein Leben für England hingegeben.«
Tessa drängte die schmerzlichen Erinnerungen zurück: Heute war der wichtigste Tag in ihrem Leben, den sie sich von nichts verderben lassen wollte.
Entschlossen straffte sie die Schultern und packte ihren schweren Koffer. Vor sich sah sie nichts als Menschen über Menschen, und ihr wurde ein wenig beklommen. Wie sollte sie sich einen Weg durch diese Menge bahnen und den Portman Square, der irgendwo in dieser riesigen Stadt lag, vor der Dämmerung erreichen?
Tessas Begleiterin wirkte genauso ängstlich. »Du liebe Güte, wie soll man sich denn hier zurechtfinden?«
Die Frauen hatten kaum zwei zögerliche Schritte getan, als sich ein rauer, schäbig gekleideter Bursche aus der Menge kämpfte und Mrs. Benton-Caldwell ansprach.
»Brauchen Sie und Ihre Tochter ‘ne Kutsche in die Stadt, Madam?« Der Kerl tippte sich an den Hut und schenkte Tessa ein zahnloses Grinsen.
»Oh!« rief Mrs. Benton-Caldwell halb erschrocken, halb erleichtert aus. »Aber ja, meine Toch… das heißt, Miss Darby braucht… Sie haben wirklich eine Mietdroschke, guter Mann?«
»Steht an der Straße, Madam«, erwiderte der Bursche stolz. Er wies mit dem Daumen über die Schulter, bückte sich und riss Tessa den schweren Koffer aus der Hand.
»Hier lang, Miss, wenn ich bitten darf.«
»Herrje! Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell voneinander verabschieden müssen!« rief Mrs. Benton-Caldwell. Sie umarmte Tessa. »Auf Wiedersehen, mein Kind! Wirklich eine gute Idee Ihres Vaters,
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