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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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auf. Hart. Der Schmerz lähmte mich, zuckte wie ein Stromstoß durch meinen Magen, bis in die Fingerspitzen und Zehen - in meinen Kopf, der jeden Moment explodieren musste. Dann ließ ich den Schmerz mit einem Schrei entweichen. Ich spürte Rokans Körper an meinem, seine Hände auf meinen Brüsten. Ich riss mir die Kleider vom Leib, warf sie achtlos neben mich. Mantel, Hemd, Hose , das Bild des Kastanienbaums. Ich zog ihn an mich, linderte den Schmerz mit seinen Händen.
    „Es tut mir leid“, flüsterte er nach einer endlosen Zeit des Schweigens und ich öffnete zu m ersten Mal , seit wir gefallen waren, die Augen.
    „Nein“, antwortete ich nur.
    Wir befanden uns in einem Lagerraum, aneinandergeklammert auf schmutzigem Lehmboden. Fässer stapelten sich an den Wänden. Jutesäcke lagen auf einem Haufen , neben Holzkisten voller duftender Winteräpfel. Mein Magen knurrte. Ich zupfte eine schwarze Feder aus Rokans Haaren und kitzelte ihn damit an der Nase. „Wo sind wir?“, fragte ich.
    Rokan stand auf, zog sich an. Er vermied es mich anzusehen. Er wirkte schuldbewusst. War es ihm peinlich?
    Ich kniete mich vor ihn hin und griff nach seiner Hand. „Rokan, wir sollten darüber …“
    „Nein!“ Er schnürte seine Schuhe, drehte mir den Rücken zu. „Du musst nicht … Denk nicht mehr daran. Es ist nicht passiert.“
    „Aber wir …“
    Er schnellte herum. Mit einer Handbewegung schnitt er mir das Wort ab und sah mir in die Augen. „Es war der Riss. So viele Eindrücke, Gefühle, Wünsche, die dort gebündelt und konzentriert auf uns eingestürmt sind. Es hatte nichts zu bedeuten und du kannst es getrost vergessen.“ Er hob den Arm und es schien, als wollte er mir über die Wange streichen. Dann ballte er die Hand zu einer Faust und steckte sie in seine Hosentasche. „Bitte, lass uns nicht mehr davon reden.“
    Ic h sammelte meine Kleider zusammen . Rokan spähte durch die Ritzen der Holztür nach draußen, die Stirn an die Bretter gelehnt. Ich kroch auf dem Boden herum, suchte das Bild des Kastanienbaums, doch es war nirgends zu entdecken .
    „Es ist verschwunden“, sagte ich und blieb mitten im Raum sitzen, stützte meinen Kopf in die Hände. „Wie soll ich sie denn jetzt nur finden?“
    Rokan hockte sich vor mich. „Das Bild?“
    Ich nickte. „Das war die einzige Chance und ich habe es einfach verloren. Ich werde sie niemals wieder sehen .“
    Rokan suchte systematisch den Raum ab. Von Ecke zu Ecke , unter den Regalen, hinter den Kisten. Nichts. Nur eine Maus, die aufgeschreckt unter dem Stapel mit den Säcken hervor rannte . Blitzschnell packte Rokan das Tier und hielt es mit zwei Fingern im Nacken fest . Die Maus piepte und zappelte. Er hob sie dicht vor sein Gesicht, schnüffelte, drückte fester zu, bis sie nur noch zuckte. Ich ergriff seinen Arm. „Nicht, Rokan, lass sie!“
    Langsam setzte er sie auf den Boden, sie blieb wie gelähmt vor seinen Füßen liegen, ihr Brustkorb bewegte sich unregelmäßig und schnell. Dann huschte sie in eine dunkle Ecke. Ich hörte etwas klappern.
    „Wir werden einen anderen Weg zu Agnès finden“, sagte er. „Aber jetzt sollten wir erst einmal nachsehen, wo und wann wir sind.“
    Er zog mich auf die Füße. Ich wehrte mich nicht, ich fühlte mich leer, k onnte nicht denken, kaum atmen.
    „Darko und das Mädchen sind der Schlüssel“, fuhr er fort. „Wenn wir die beiden aufspüren und in d er Lage sind, ihnen zu helfen, r ückgängig zu machen, was der Vater zerrissen hat, könnten sich die Risse in den Welten verschließen. Und wenn die Ursache behoben ist, werden auch die Auswirkungen verschwinden.“
    Ich runzelte die Stirn. „Bist du sicher?“
    Rokan lachte. „Nein, aber hast du einen besseren Vorschlag?“
    „Also dann sollten wir wohl gehen“, sagte ich.
    Die Sonne stand tief, lugte nur noch halb hinter einem Hügel hervor. Die Luft war warm und klar .
    Rokan atmete tief ein. „Herbst“, sagte er. „Meine liebste Jahreszeit. Die Natur bereitet sich auf die Metamorphose vor. Alles scheint verklärt und erwartungsvoll.“
    Ich hielt meine Hand über die Augen und sah mich um. Einige kleine Häuser, ein Dorfplatz mit Brunnen. Das Gebäude, vor dessen Tür wir nun standen, schien eine Gastwirtschaft zu sein. Neben dem Lagerraum befand sich der Eingang zum Schankraum . Darüber baumelte ein Holzschild mit der Aufschrift: NEHCNINAK
    „Ich dachte schon, ihr würdet dort drinnen überwintern.“
    Ich schreckte zusammen und drehte mich zur Seite. Im

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