Corvidæ
„Hinter der Hügelkette“, e r deutete nach Westen, wo sich die Hügel dunkel vor der sinkenden Sonne abze i chneten, „ liegt das Dorf der Menschen.“
„Es hat sich verändert.“ Jacques klappte das Tagebuch zu und sah uns der Reihe nach an. „ Die Einträge haben sich geändert. Die Worte sind nicht mehr die gleichen.“
Rokan nahm ihm das Buch aus der Hand und blätterte darin. „Dann sind wir auf dem richtigen Weg“, sagte er. „Ich wünschte nur, wir könnten in Erfahrung bringen, was uns auf der anderen Seite erwartet.“
„Geht euren Weg mit offenen Augen und seid vorsichtig “ , sagte Vorak. „D och traut nicht immer allem , was ihr seht.“
„Kommst du nicht mit?“, fragte ich und er schüttelte den Kopf.
„Mutter Eiches Wurzeln enden hier. Ich muss zurück.“ Er drückte meine Hand. „Aber wir werden uns bald wiedersehen.“
Er verabschiedete sich von den Männern und ich begleitete ihn noch ein paar Schritte auf seinem Rückweg.
„Kannst du nach Agnès sehen ?“, fragte ich. „Ich hätte ein besseres Gefühl, wenn jemand auf sie aufpasst. Jemand, dem ich vertraue.“
Vorak nickte und wischte sich fahrig über die Augen. „Mir deucht deine Amnesie war nur partieller Natur, Schönste. Dein Urteilsvermögen ist ausgezeichnet.“
Ich gab ihm lachend einen Kuss. Die Haut seiner Wange fühlte sich rau wie Baumrinde an. Er winkte mir noch einmal zu und verschwand im nächsten Strauch.
D er Mann beobachtete sie. Irina konnte seine Blicke spüren. Dunkel und kalt. Sie suchte Trost im Duft ihrer Mutter. Presste ihre Nase fest an die warme Haut, blähte die Nüstern.
„Du solltest dich nicht hier einschließen, Elisabeth.“ Er schenkte sich dampfenden Tee in den Becher. Der Kräutergeruch legte sich um ihn und verdeckte für den Moment die Kälteschicht um seinen Körper, die sonst deutlich zu spüren war.
Lizzie hörte auf die Melodie zu summen und sah ihn an. „Wo sollte ich denn hin gehen? Irina braucht mich jetzt. Ihre Federn beginnen auszufallen. Sie wird frieren und sich anders fühlen. Vielleicht bekommt sie Angst, dann will ich da sein für sie.“
„Für sie … Und was ist mit mir? Sie ist auch meine Tochter!“ Er schlug den Becher auf den Tisch , dass die heiße Flüssigkeit über seine Finger spritzte , und ballte die Hand zur Faust.
Irina spürte ihn kommen. Die Dunkelheit erschreckte sie. So kalt !
Keine Angst, ich bin da.
Mit zwei weiten Schritten war er bei ihnen. Sein Körper roch nach Zorn und bitterer Galle. Er streckte die Hand nach Irina aus und Lizzie beugte sich schützend über sie. Sie spürte die Hitze in dem kleinen Körper. Ängstliches Fieber. Und sie wünschte nur, dass Etienne verschwinden würde.
Sie wünschte sich, dass der Mann verschwinden würde.
Mit einem Aufschrei zog er die Hand zurück, presste sie unter die Achsel.
„Verdammt! Was war das?“ Er betrachtete seine geröteten Finger, die versengten Härchen auf dem Handrücken und ging rückwärts, bis er an den Tisch stieß.
„Du hast dir den Tee über die Hand gegossen “ , sagte Lizzie. „D u solltest sie in kaltes Wasser halte n.“
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das Kind, das die Lider geschlossen hatte und ruhig und gleichmäßig atmete. Er nickte und holte den Eimer aus der Küche, um zu m Brunnen zu gehen.
Irinas Traum war hell und mild. Übe r den Bäumen ging die Sonne auf, die warmen Strahlen strichen ihr sanft über die Haut. U nd ihre Mutter summte eine tröstliche Melodie.
W ir erreichten die Dorfgrenze am Mittag. Über den Weizenfeldern brannte die Sonne viel zu heiß für diese Jahreszeit. Die Ähren hatten ihre Köpfe gesenkt. Ich sah zurück und schloss die Augen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Werden wir zurückkehren, Rokan?“
Er nickte. „Wir haben es einmal geschafft, also können wir es auch ein zweites Mal.“
„Aber wird es sich dann wieder verändert haben?“ Was ich mich eigentlich fragte war, ob Agnès noch hier sein würde. Aber das konnte ich nicht aussprechen. Solange ich es nicht sagte, würde es vielleicht nicht wahr sein.
„Ich hoffe es“, antwortete er. „ V iel Leid würde verhindert werden.“
Ja, natürlich. Wir mussten das Mädchen und Rokans Bruder retten. Und viele andere. Ich atmete die schwere Luft ein, die den Duft der Felder zu mir trug , und drehte mich um. „ L asst uns gehen“, sagte ich.
Wir schlichen im Schutz der Bäume weiter. Rokans Körper war angespannt. Alle paar Schritte blieb er
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