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Corvidæ

Corvidæ

Titel: Corvidæ Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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spielen, die Töne klangen disharmonisch in meinen Ohren. Ein kurzer Moment der Stille, dann rauschender Applaus. E rst jetzt registrierte ich, dass die Welt wieder Form angenommen hatte.
    „Akteur oder Besucher?“
    Ich drehte mich zu der ungeduldigen Stimme um und sah in zwei Augen, die durch dicke Brillengläser unnatürlich vergrößert auf mich herab blickten. Die Frau zupfte den Rüschenkragen ihrer weißen Blusen zurecht und schnaufte. „Akteur oder Besucher?“, wiederholte sie und beugte sich nach vorne; klopfte mit dem Bleistift ungeduldig auf die Platte des Stehpults , auf dem sich Hochglanzprospekte stapelten.
    „Ä h m, meinen Sie mich?“ Ich ging einen Schritt auf sie zu, sah mich aber nach Rokan und Jacques um, die nirgends zu entdecken waren. „Ich bin eigentlich eher zufällig hier.“
    „Schätzchen“, sagte sie in arrogant, mütterlichem Tonfall und zog eine Augenbraue nach oben, „niemand ist zufällig hier. Sie sind entweder Akteur oder Besucher . Mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Also?“
    Ich sah über meine Schulter und entdeckte ein leuchtendes Schild, auf dem das Wort eINGANG stand. „Ich werde mich später entscheiden“, sagte ich im Rückwärtsgehen. „Ich muss nur vorher noch jemanden finden.“
    Sie sah auf die große Bahnhofsuhr an der gegenüberliegenden Wand. „Bitte. Einlass ist noch einundzwanzig Minuten.“
    Ich spürte die Türklinke in meinem Rücken und drehte mich erleichtert um, drückte sie nach unten und schob die schwere Tür auf. Sofort zerrte der Wind an meinen Kleidern; Regentropfen klatschen auf meine Arme. Einige Stufen führten nach unten auf die … Straße? Ich keuchte. Vor dem Ausgang floss ein roter, blubbernder Strom. Kühle Dampfschwaden stiegen nach oben und in kurzen Abständen spritzen Fontänen daraus hervor und nässten meine Füße .
    In der Ferne erkannte ich verschwommene Gebäude. Hochhäuser und Fabrikschlote, die grün-blaue Dampfwolken in die Luft schnaubten. Aus einer Nebelbank lösten sich die Umrisse eines Schiffes und das tiefe Dröhnen eines Nebelhorns grub sich in meinen Magen. Langsam schloss ich die Tür und lehnte mich schwer atmend dagegen. Die Bahnhofsuhr tickte viel zu laut. Mein Herz raste. Wo waren Rokan und Jacques?
    Ich trat wieder vor das Pult. Die Frau feilte gelangweilt ihre Nägel und beachtete mich nicht. Ich räusperte mich. Nachdem sie ihre Maniküre- Utensilien sorgfältig in einem Etui verstaut hatte hob sie den Blick. „Bitte“, sagte sie gedehnt. „Was kann ich für Sie tun?“
    „Sind kürzlich außer mir noch andere Leute angekommen? Ein junger Mann und ein Kleinwüchsiger. “ Ich deutete mit der Hand Rokans Größe an.
    „Das kann ich nicht sagen. Ich bin sehr beschäftigt und kann mir nun wirklich nicht alle Person en merken , die hier ein und aus gehen . Und selbst wenn, so fiele das unter die Schweigepflicht.“ Sie sah wieder zur Uhr. „Kann ich Ihnen nun behilflich sein? Wir schli eß en bald.“ Demonstrativ ordnete sie die Prospekte.
    In dem Raum gab es nur zwei Türen. Die, die nach draußen führte und eine andere, die durch einen halb geöffneten Vorhang aus schwerem, weinrot schimmerndem Samtstoff zu sehen war. Resigniert nickte ich. „Ich möchte gerne hinein.“
    „Also dann“, stöhnte sie. „Akteur oder Besucher?“
    „Besucher, denke ich.“
    „ G ut, das macht fünf Haar.“
    „Bitte?“
    „Schätzchen, S ie machen mir meinen Job wirklich nicht leicht. Der Eintrittspreis beträgt fünf Haar. Möchten Sie nun hinein oder nicht?“ Sie kramte eine Rennfahrerkappe aus ihrer Handtasche, zog sie auf den Kopf und knöpfte den Kinnriemen zu. „Sie haben noch genau zwei Minuten.“
    „Ich verstehe das nicht“, sagte ich. „Könnten Sie mir bitte … Au!“
    Mit einem schnellen Griff hatte sie mir einige Haare ausgerissen und zählte sie durch. „Vier“, sagte sie. „Möchten Sie das letzte selbst … oder soll ich?“
    „Nein, schon gut.“ Ich zupfte mir das fehlende Haar aus und reichte es ihr. „ Entschuldigen Sie, i ch wusste nicht …“
    „Ja ja, schon gut“, schnitt sie mir das Wort ab , wickelte einen roten Klebestreifen um meine Haare , legte sie in einen Schuhkarton, auf dessen Deckel eine grellgelbe Narzisse abgebildet war , und verstaute ihn in einem Regal hinter ihrem Arbeitsplatz. Dann heftete sie mir einen roten Button an den Mantel. „ H erzlich willkommen im Couleur . Reklamationen werden nur innerhalb einer Zehntagesfrist entgegengenommen und

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